Indigenenrat zieht düstere Bilanz der Ära Bolsonaro

"Zyklus von Perversität und Brutalität"

Brasiliens indigene Völker haben unter der Regierung des Rechtspopulisten Bolsonaro gelitten. Das zeigt ein neuer Gewaltbericht für 2022. Doch auch unter dem neuen Präsidenten Lula lauern Gefahren.

Autor/in:
Thomas Milz
Präsident Bolsonaro trifft Indigene / © Marcos Correa/Agencia Brazil (dpa)
Präsident Bolsonaro trifft Indigene / © Marcos Correa/Agencia Brazil ( dpa )

Der katholische Indigenen-Missionsrat Cimi in Brasilien geht in seinem Jahresbericht "Gewalt gegen indigene Völker 2022" hart mit der Regierung von Ex-Präsident Jair Messias Bolsonaro (2019-2022) ins Gericht. In dessen letztem Amtsjahr seien 309 Gebietsverletzungen indigenen Landes registriert worden, fast dreimal mehr als 2018 (109 Fälle), dem Jahr vor seinem Amtsantritt, teilte Cimi (Mittwoch Ortszeit) in der Hauptstadt Brasilia mit.

Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto (dpa)
Jair Bolsonaro, Präsident von Brasilien / © Marcos Correa/Palacio Planalto ( dpa )

Mehr als 150 Konflikte um indigenes Land 

Hinzu kamen demnach 158 Konflikte um indigenes Land, nach 118 einschlägigen Fällen in 2021 und lediglich 35 in 2019. Laut Cimi ist der Anstieg eine direkte Folge unterbliebener Demarkierung von Indigenengebieten unter der Regierung Bolsonaro – ein Verfahren, das eigentlich durch die Verfassung von 1988 vorgeschrieben ist.

Bolsonaro hat sein im Wahlkampfversprechen von 2018 tatsächlich eingehalten: Als erster Präsident seit 1988 wies er überhaupt keine neuen Indigenengebiete aus. Aus seiner Sicht besitzen die Indigenen bereits zu viel Land. Erfolglos versuchte sein Lager im Kongress, die Gebiete für eine wirtschaftliche Ausbeutung zu öffnen. Als Folge zurückgefahrenen staatlichen Schutzes habe sich dort aber die Präsenz von Drogenbanden und illegaler Goldsucher erhöht, erklärt Lucia Helena Rangel, Koordinatorin der Cimi-Erhebung.

Kindersterblichkeit durch Krankheiten und Mangelernährung 

Besorgt zeigt sich Rangel über die Lage indigener Kleinkinder bis vier Jahre: 2022 starben 835, im Vorjahr 917. In den vier Bolsonaro-Jahren seien insgesamt 3.552 Kinder dieser Altersgruppe an Krankheiten und Mangelernährung gestorben, 35 Prozent mehr als unter der Vorgängerregierung (2015-2018).

Leicht rückläufig war 2022 indes die Zahl der getöteten Indigenen, mit 180 gegenüber 203 Fällen im Vorjahr. Auch die Zahl der Suizide ging nach 160 Fällen 2021 auf nun 115 zurück. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 416 Indigene Opfer von Gewalt, etwas mehr als 2021 mit 387. Der Durchschnitt der vier Bolsonaro-Jahre lag mit 373,8 Fällen von Gewalt pro Jahr dagegen deutlich höher als in den vier Regierungsjahren zuvor (242,5 Fälle jährlich).

"Drehbuch des Genozids"

Laut Cimi-Missionar Roberto Antonio Liebgott steht Brasilien nun am "Ende eines Vier-Jahres-Zyklus von Perversität und Brutalität gegen Indigene". Bolsonaros Regierungsprogramm sei ein "Drehbuch des Genozids" gewesen. Sein Diskurs und der Rückbau staatlicher Kontrollbehörden hätten gezeigt, dass die Ureinwohner nicht als Menschen angesehen würden, sondern als zu eliminierende Objekte, so Liebgotts drastisches Fazit. "Die Dehumanisierung war Teil dieses Drehbuchs, das mit dem Genozid der Indigenen enden sollte. Wir müssen dafür kämpfen, dass sich dies niemals wiederholt."

Lula da Silva / © Christophe Gateau (dpa)
Lula da Silva / © Christophe Gateau ( dpa )

Seit Januar regiert wieder der linke Luiz Inacio "Lula" da Silva, der sich in seinen Reden an die Seite der indigenen Völker stellt und eigens für deren Belange ein Ministerium ins Leben rief. Cleber Karipuna vom Indigenenverband APIB warnt jedoch vor zu viel Optimismus. "Die jetzige Regierung ist zwar offener für Dialog. Aber im Kongress und in den Regionalregierungen sitzen noch immer die Gleichen, die uns diese ganzen Jahre über stets angegriffen haben."

Immer noch indigenenfeindliche Abgeordnete 

Adveniat

Adveniat ist das Hilfswerk der deutschen Katholiken für die Kirche Lateinamerikas. Der Name leitet sich ab von der lateinischen Vaterunser-Bitte "Adveniat regnum tuum" ("Dein Reich komme"). 

Bischöfliche Aktion Adveniat e. V. (Adveniat)
Bischöfliche Aktion Adveniat e. V. / ( Adveniat )

Ähnlich sieht das Pater Martin Maier, Hauptgeschäftsführer des deutschen Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, das die Arbeit von Cimiseit Jahren unterstützt. Lulas Amtsantritt habe zwar Hoffnungen auf Schutz der indigenen Völker sowie des Amazonasgebietes geweckt. "Die beiden Kammern des Kongresses werden jedoch nach wie vor von indigenenfeindlichen Abgeordneten dominiert." Zudem sei zweifelhaft, ob das Oberste Gericht in der Frage des umstrittenen "Marco Temporal" eine endgültige Klärung erreichen werde, sagte Maier der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

Es geht ums Überleben

Gemäß der Stichtagsregelung hätten indigene Völker nur Anrecht auf Gebiete, die sie im Moment der Verabschiedung der Verfassung 1988 tatsächlich besiedelten. "Wenn es dazu kommt, ist das ein Verbrechen an all jenen, die am Tag der Ausrufung der brasilianischen Verfassung von ihrem Land vertrieben waren, und auch eine Pervertierung der Verfassungsgrundsätze", so Maier. "Denn dann wird ihre Vertreibung höchstrichterlich legalisiert." Das widerspreche der Verfassung, die den systematischen Verfolgungen Indigener während der Militärdiktatur ein Ende habe setzen sollen.

Noch ist offen, wann das Gericht über den "Marco Temporal" entscheidet. Doch Maier stellt klar: "Es geht längst um das Überleben der circa 300 indigenen Völker Brasiliens." Das Recht, auf ihrem Territorium sicher zu leben, sei für sie existenziell. Bliebe der Status der Territorien unklar, würden Goldgräber, Holzfäller und Agrokonzerne dort eindringen und die Lebensgrundlage der Ureinwohner zerstören.

Brasilien

Brasilien ist mit rund 207 Millionen Einwohnern und einer Fläche von mehr als 8,5 Millionen Quadratkilometern das fünftgrößte Land der Welt. Es ist in 26 Bundesstaaten und den Föderalen Distrikt der Hauptstadt Brasilia gegliedert. Die drei größten Städte des Landes sind Sao Paulo, Rio de Janeiro und Brasilia. Landessprache ist Portugiesisch. Rund 90 Prozent der Bevölkerung sind Christen, davon knapp zwei Drittel Katholiken sowie eine steigende Zahl von Mitgliedern protestantischer Kirchen und Gruppierungen.

Brasilianische Flaggen / © DenisProduction.com (shutterstock)
Brasilianische Flaggen / © DenisProduction.com ( shutterstock )
Quelle:
KNA