Stellvertretender Kölner Stadtdechant im Gespräch

"Ich muss bereit sein, den Himmel reinzulassen"

Was brauchst Du? Diese Frage und echtes Interesse am anderen müssen laut Pfarrer Schurf jeden Seelsorger leiten, erst recht in der Jugendpastoral. "De Pastor hätt keen Zick" – so einen Satz gäbe es bei ihm nicht. Auch nicht kurz vor Weihnachten.

Jugendliche unterwegs / © View Apart (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Herr Pfarrer Schurf, über die Jugendarbeit in Ihrer Heimatgemeinde haben Sie zu Ihrer Berufung als Priester gefunden. Später waren Sie dann selbst mitverantwortlich für jugendpastorale Themen: zunächst als Stadtjugendseelsorger von Leverkusen, dann in gleicher Funktion für Köln. Was bewegt Sie heute als Gemeindepfarrer in diesem Kontext, zumal Jugendliche ja vor allem – wenn überhaupt – weitgehend nur noch projektbezogen in der Kirche auftauchen?

Karl-Josef Schurf (Leitender Pfarrer des Seelsorgebereichs Sülz-Klettenberg und stellvertretender Stadtdechant von Köln): Als ich damals Leitender Pfarrer wurde, wollte ich in meinem Pastoralteam jemanden, der die Arbeit mit Jugendlichen richtig gerne macht und auch eine Nähe zu dieser Altersgruppe hat, zumal das ja nicht mehr so ganz mein Feld ist. Trotzdem bekomme ich natürlich immer noch mit, wo der Schuh drückt, und ich mache mich stark dafür, dass junge Menschen ihren Raum und einen Ort bekommen, von dem sie sagen: Da können wir hin. Die Pubertät ist eine widerspenstige Zeit – das weiß ich ja noch aus meiner eigenen Jugend – da war die pfarrliche Gruppenarbeit das Alternativmodell zum Elternhaus. Man wollte raus, seine Freiheit haben. Hinzu kam, dass in den 1970er Jahren Aufbruchstimmung herrschte und mehr und mehr der Gemeinschaftsaspekt innerhalb der Kirche in den Vordergrund rückte. In dieser Zeit wurde gelebt: Es ist gut, dass du da bist! Das heißt, wir konnten uns auch mal austoben, Dinge probieren, die nicht unbedingt genehm waren, wenn ich zum Beispiel daran denke, dass wir an einem Sonntag vor der Kirche mit einem Kassettenrekorder in der Hand die Leute befragten, warum sie eigentlich zur Messe kommen. Das fand vielleicht nicht den Zuspruch unserer Eltern, aber wir bekamen die Rückendeckung vom Pastor. Also das Fundament war: Diese Kirche macht Freude. Hier gibt es eine Nähe zu den Menschen und eine Nähe zu Gott. Da gehe ich gerne hin, da bin ich erwünscht – und nicht, weil ich Erwartungen erfülle. In dieser Zeit habe ich erlebt, dass jeder fähig ist, Kirche mitzugestalten, wenn er nur will. Das war eine ganz prägende Erfahrung.

Auch heute bleibt die Nähe zu den Menschen, eine Haltung der Wertschätzung und des echten Interesses an einem anderen für mich die vorrangige Aufgabe. Was auch immer sich dann daraus entwickelt, macht Gott. Entscheidend ist nicht, was ich in meinem Bauchladen an Missionierungsangeboten mitbringe, sondern die ganz inwendige Frage: Was brauchst Du? Für junge Leute geht es um das ganz Naheliegende: um Freundschaft, Liebe, vielleicht auch um Sicherheit, wenn sich die Eltern getrennt haben und die Familie auseinanderbricht. Dann kann ich Zeit schenken – nicht für Vordergründiges, aber für die Sehnsucht, die jemand in sich trägt, und für ein Gespräch, in dem er mir davon erzählt, was ihn bewegt. Ich will berührbar, nahbar sein. "De Pastor hätt keen Zick" – so ein Satz, selbst im größten Adventsstress, geht für mich gar nicht. Zeit und Raum für ein Gespräch – und wenn erst ein paar Tage später – muss immer sein. Aber dann muss ich bereit sein, nicht nur in meiner Fachlichkeit präsent zu sein, sondern auch den Himmel reinzulassen, mich letztlich bei einer solchen Begegnung mit Gott zu verbinden und am Ende schließlich auch gemeinsam zu beten. Diese jungen Menschen sollen erfahren, selbst wenn mir ihre Lebenswelt fern ist, dass ich nicht ein Ritual abspule, ihr Anliegen nicht stiefkindlich behandelt wird, sondern sie auf jemanden treffen, der wirklich Anteil nimmt, zuhört und das Gespräch am Ende seine Verdichtung im Gebet findet.

DOMRADIO.DE: Sie haben einmal gesagt: Wir sind herausgefordert, zusammen auf den Weg zu gehen und dabei einander mitzunehmen. Was braucht es, um junge Menschen heute noch zu erreichen und "mitzunehmen" auf einem Weg, der ihnen nicht mehr sonderlich reizvoll und attraktiv erscheint?

Schurf: Es müsste uns gelingen, an der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen, die gerade mit ganz anderem beschäftigt sind als wir, die sich mit Fragen der Berufsfindung oder Beziehungsthemen auseinandersetzen, anzudocken. Dabei darf die religiöse Frage nicht in der Luft hängen bleiben. Wir können sie auffordern: Nimm Deine Situation in die Verbindung mit Gott – auch wenn er kein Zauberer ist – aber bring Deine Fragen und Anliegen in die Beziehung zu Jesus. Nimm die nächste offene Tür auch als Wagnis, Dich Gott anzuvertrauen. Denn zu vertrauen ist allemal besser, als mit Sorge und Angst zu leben.

Konkret: Jemanden "mitnehmen" heißt für mich zum Beispiel, seinen Namen auf eine Karte zu schreiben, sie in meine Gebetsecke zu legen und mich dann aber auch daran zu erinnern, einmal bei ihm nachzufragen: Wie ist es Dir inzwischen ergangen? Was ist aus Deiner Bedrücktheit geworden, aus Deinen Ängsten? Das ist für mich ein Stück gemeinsamen Weges. Auch umgekehrt geht es mir ja so, dass ich mich Freunden oder Gesprächspartnern anvertraue, wenn ich Rat suche, mich irgendwo lassen muss. Es stellt sich immer dann Freude oder eine Art Genugtuung ein, wenn man im geistlichen Austausch zu einer Stimmigkeit findet, wenn es fließt. Andererseits brauche ich auch die Stille und den Rückzug. Und dann gibt es schließlich Phasen, da geht "mitnehmen" nicht. Da muss man dann die Distanz und Gleichgültigkeit ertragen und aushalten, dass da eben nichts aufbricht und wächst.

Jugendliche brauchen Vorbilder; etwas, woran sie sich orientieren, festmachen können. Auch Gastfreundschaft ist hilfreich. Daher ist die Einladung "Du bist willkommen, nimm teil!" so wichtig. Aber auch umgekehrt gilt natürlich: Lass uns genauso teilhaben an Dir! Denn auch wir wollen von Dir lernen. Solidarität, Empathie und vertrauender Glaube spielen da mit hinein, will ich jemanden mitnehmen und einen solchen gemeinsamen Weg als Perspektive gestalten und nicht als Einbahnstraße.

DOMRADIO.DE: Ein anderes, wie ich meine, sehr anschauliches Zitat von Ihnen lautet: Die Kirche bleibt für mich der Ort, an dem Individuelles und Gemeinschaftliches ihre kostbare Entfaltung finden; der Ort, an dem Göttliches und Menschliches Begegnung feiern. Wie nehmen Sie – angesichts der dramatischen Kirchenaustrittszahlen – die Gesamtgemengelage der Kirche in Köln zurzeit wahr? Wie steht es gerade um diesen Festcharakter der Begegnung von Gott und den Menschen?

Schurf: Nach anfänglichem Missmut und Ärger nehme ich nun eine große Brache wahr. Der Pastorale Zukunftsweg ist ausgesetzt und Stillstand gibt es auch bei vielem anderem. In den Versuch, verstehen zu wollen, was Gott uns gerade mit all dem, was geschieht, sagen will, mischt sich die Hoffnung, dass wir diese Krise in eine Selbstverantwortung wenden können. Dabei geht es mir nicht darum, die Hauptamtlichen oder meine Mitbrüdern im Stich zu lassen – überhaupt nicht – aber dennoch auch zu respektieren, dass die Hauptverantwortung beim Volk Gottes liegt. Und das sind wir alle gemeinsam. Jeder einzelne ist gemeint, aber eben auch die Gemeinschaft der Gläubigen. Beides ergänzt einander.

Hier sehe ich mich in einer Brückenfunktion. Auch in der Leitungsrolle sind wir Kleriker zunächst einmal Diener des Glaubens. Der Habitus der Kirche und ihre Ämter stehen zu sehr im Zentrum, dabei müssten wir Priester vielmehr hinter der eigentlichen Botschaft zurücktreten. Es geht primär nicht um den Pfarrer und seine Bedeutung, aber – wie gesagt – wir haben eine wichtige Mittlerrolle, wenn es darum geht, anderen Menschen zu ihrem eigentlichen Leben, zu ihrer Berufung zu verhelfen. Vielleicht liegt darin gerade die Zumutung des Himmels, permanent in allen Gremien über die Verfasstheit unserer Kirche zu debattieren. Dabei sollten wir von dieser Selbstbespiegelung wegkommen und unsere Arbeit machen, Seelsorger sein, auf die Menschen zugehen. Das bedeutet, einfach mal absichtslos einen Besuch zu machen, auch wenn wir nicht erwartet werden, und sich Zeit für ein Gespräch nehmen. Denn wenn die Einzelseelsorge aus dem Blick gerät, können wir doch zumachen. Es muss schließlich noch möglich sein, dass ich die Menschen hier in meiner Gemeinde kenne und – auch umgekehrt – sie mich.

DOMRADIO.DE: Kurz vor Weihnachten sind die Menschen unter Umständen ansprechbarer, empfänglicher für eine Botschaft, die sich wohltuend gegen das abhebt, was sie in ihrem Alltag erleben: Mut- und Hoffnungslosigkeit nach anderthalb Jahren Pandemie, in der viele ihre Existenz oder sogar einen geliebten Menschen an das Virus verloren haben. Nach einer Jahrhundertflut, die ebenfalls vielerorts für große Verzweiflung und Not gesorgt hat und uns angesichts der Naturgewalt noch ein Stück demütiger machen müsste. Und nach einer sich immer noch nicht befriedenden Kirchenkrise, deren Ausgang ungewiss bleibt. Was sagen Sie den Menschen auf der Straße, aber auch in Ihren Kirchen: Woher kann Trost kommen?

Schurf: Bei all dieser momentanen Wut, Enttäuschung und Ohnmacht, die uns innerkirchlich, aber auch gesellschaftlich umtreibt, sollten wir auf Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit bauen und insgesamt weniger dozieren. Wir sollten unserer Überzeugung Ausdruck geben, dass sich dieser Gott, der zu Weihnachten – als Kind in einem armseligen Stall geboren – Mensch wird, nicht geschont hat, das ganze Elend, das ihm vorherbestimmt war, auf sich genommen hat, da hindurchgegangen ist. Der "heruntergekommene Gott", wie ihn der Theologe Jürgen Moltmann nennt, will nicht von außen zuschauen, sondern mit uns mitleben, mitleiden und mitlieben. Daraus beziehen wir Christen Trost. Natürlich hätten wir nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kirche gerne einen Idealzustand. Und diesen Traum würden wir am liebsten in eine Wirklichkeit verwandeln. Da das aber nur Wunschdenken bleibt, sollten wir wenigstens die Chance nutzen, die Wirklichkeit, so wie sie ist, anzunehmen und sie als Christen mitzugestalten, statt in eine Depression abzurutschen.

Diese Armut und Einfachheit, in die Jesus Christus hineingeboren wird, ist Ausdruck einer großen Solidarität Gottes mit uns Menschen. Damit will er uns sagen: Ich bin einer von Euch. Ich weiß, wie es Euch geht. Ich verlasse meinen göttlichen Kosmos, um genauso hilflos wie Ihr zu sein. Ich kann gar nicht anders, als mitten unter Euch zu sein und mit Euch Euer Leben zu teilen. Diese Zusage wiederum könnte uns dazu bringen, nicht mehr diesem Wahn des Edlen, Erhabenen und Perfekten hinterher zu jagen, sondern zu lernen, mit der eigenen Brüchigkeit und der der anderen zu leben.

DOMRADIO.DE: Apropos Brüchigkeit und offene Wünsche: Welchen Wunschzettel legen Sie für sich ganz persönlich unter den Tannenbaum?

Schurf: Ich würde mir wünschen, dass wir im Kontext der momentanen Impfthematik den zurzeit erlebbaren Hass und die damit verbundene gesellschaftliche Lagerbildung – dieses Aufbegehren gegen Gebote und Konventionen des Zusammenlebens – überwinden lernen und in eine innere und äußere Weite finden. Warum ist Fremdheit der Grund für so viel Groll und offen ausgetragene Feindschaft? Und für unsere Kirche wünsche ich mir ganz klar, dass wir endlich die momentan verschüttete und kaum noch erfahrbare Freude an dem wiederfinden, was uns als Christen im Kern eigentlich ausmacht.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti. 


Der stellvertretende Kölner Stadtdechant Karl-Josef Schurf / © Beatrice Tomasetti (DR)
Der stellvertretende Kölner Stadtdechant Karl-Josef Schurf / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR
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