Welchen Stellenwert hat der Religionsunterricht in der Corona-Krise?

"Ich glaube, ich bekomme andere Kinder zurück"

Viele weiterführende Schulen haben wieder geöffnet. Am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium findet der Religionsunterricht allerdings nur im Homeschooling statt. Das sei für viele Schüler eine unglaubliche Chance, meint die Religionslehrerin Swantje Grommes.

Mit Mundschutz in die Schule / © Robert Michael (dpa)
Mit Mundschutz in die Schule / © Robert Michael ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie läuft der Schulaltag mit den Corona-Rahmenbedingungen bei Ihnen?

Swantje Grommes (Religionslehrerin am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Bornheim): Bei uns läuft das eigentlich ganz gut, wenn es auch wirklich komisch ist, in die Schule zu kommen. Ich habe mit vielen Schülern gesprochen. Die waren einerseits total froh, dass sie wieder in die Schule gehen konnten und auch dankbar, dass die Schule wieder losgeht. Aber es ist schon ungewöhnlich.

Es dürfen nur zehn Schüler in einen Klassenraum, man muss die Hände desinfizieren, wenn man raus- und reingeht, man muss auf demselben Platz sitzen, wir Lehrer desinfizieren die Tische, wenn die Schüler fertig sind und gehen in die Räume - nicht die Schüler, die haben ihre festen Plätze.

Es ist alles anders, als es vorher war. Man darf nur in Einbahnstraßen laufen, die Schüler begegnen sich sehr wenig und ich glaube am befremdlichsten für die Schüler ist, dass sie auch in den Pausen in bestimmten Bereichen auf dem Schulhof bleiben müssen und nicht nah aneinander vorbeigehen dürfen. 

DOMRADIO.DE: Schauen wir mal auf den Unterricht und die Inhalte: Viele Eltern sind besorgt, dass die Kinder zu wenig lernen und den Anschluss verpassen, vor allem in den Hauptfächern Deutsch, Mathe und Englisch. Wie kann sich da ein Fach wie Religion im Moment behaupten?

Grommes: Wir behaupten uns im Moment sowieso grundsätzlich nur im Homeschooling. Wir unterrichten an unserer Schule zurzeit nur die großen Hauptfächer. Das sind meistens Mathe, Deutsch und Englisch. Latein auch. Und ich unterrichte auch mal in einer Klasse Biologie, aber Religion wird gerade "nur" im Homeschooling unterrichtet. Das bietet aber, finde ich, vielen Schülern eine unglaubliche Chance.

Man merkt, dass es Kinder gibt, für die das "System Schule" gar nicht so geeignet ist und die jetzt unglaublich aufblühen. Und ich stelle fest, dass wir an diese Schüler und auch an alle anderen gerade im Homeschooling sehr gut andocken können.

DOMRADIO.DE: Warum ist gerade Religionsunterricht in diesen Zeiten so wichtig?

Grommes: Ich finde, er ist deswegen so wichtig, weil wir ins Gespräch kommen können - über Dinge, die vielleicht in Familien nicht besprochen werden. Wir können über Dinge sprechen, die Mut machen, gute Nachrichten verbreiten und die Schüler noch einmal reflektiert über diese Zeit nachdenken lassen.

Das ist nochmal eine ganz andere Sache. Das mache ich nicht, ohne dass ich dies schmälern möchte, in Mathe oder in Englisch. Wir haben jetzt die Chance - und darüber spreche ich auch oft mit Kollegen, die das genauso sehen - mit den Schülern diese Zeit besonders verarbeiten zu können und ihnen Hilfen zu geben, zu reflektieren, was da gerade passiert.

Das macht vielen unglaublichen Mut. Sie setzen sich sehr toll mit dieser Zeit auseinander und ich bekomme manchmal Materialien von den Schülern zugeschickt, bei denen ich mich oft wundere: "Kenne ich dich eigentlich?" Das habe ich von denen so noch nie gehört.

DOMRADIO.DE: Zum Beispiel?

Grommes: Wir haben gemeinsam mit Kollegen die Schüler den Menschen im April 2020 darstellen lassen. Wir waren in der Oberstufe sowieso beim Thema Anthropologie. Diese Anthropologie haben wir jetzt umgekrempelt, ganz anders als wir sonst unterrichten. Wir haben es komplett auf den Menschen, das Coronavirus gemünzt und darauf, wie der Mensch in dieser besonderen Zeit reagiert.

Wir haben die Schüler eine Foto-Challenge machen lassen. Sie sollten ein Bild fotografieren, wie sie den Menschen im April 2020 sehen und dazu dann ein Statement schreiben. Die Schüler haben so tolle Bilder zurückgeschickt.

Sie waren unglaublich reflektiert. So habe ich sie im Unterricht teilweise nicht kennengelernt. Sie haben sich noch mal sehr vertieft mit der Frage "Was macht eigentlich dieses Virus mit uns und mit unseren Mitmenschen?" auseinandergesetzt.

DOMRADIO.DE: Also könnte man sagen, dass die Schülerinnen und Schüler angesichts einer Krise, die niemand vorher erlebt hat, viel empfänglicher für die existenziellen und spirituellen Themen des Lebens sind?

Grommes: Ich glaube ja. Ich merke, dass es ihnen auch gut tut, alleine darüber zu reflektieren. Ich glaube, viele Schüler sind im Religionsunterricht stark gehemmt, weil sie sich vielleicht in dieser - ich sage mal ganz provokant - nicht immer religiös sozialisierten Gesellschaft, so äußern können und vielleicht auch nicht wollen. Das stelle ich im Religionsunterricht oft fest.

Ich glaube, ich erreiche sie jetzt in dieser Homeschooling-Zeit in einer besonderen Tiefe, in der sie selber für sich reflektieren müssen und das ja nur an mich zurückschreiben. Und ich glaube, dass ich da sehr viel mehr  erreiche, als ich das in einem normalen Religionsunterricht kann. Ich schicke den Schülern mal zwischendurch - zu Pfingsten zum Beispiel - Worte zu, um sie einfach zu berühren und ihnen etwas mit auf den Weg zu geben.

DOMRADIO.DE: Sie sagen auch "Schule kann eine religiöse Heimat bieten". Sind Sie damit jetzt auf dem Weg?

Grommes: Ich glaube, ja. Ich glaube, dass Religion in vielen Familien nicht zur Sprache kommt - vor allem nicht in einer Zeit, in der man sich um viele andere Dinge Sorgen macht. Und ich glaube, dass es einigen Schülern sehr wichtig war,  an diesen Homeschooling- Religionsunterricht andocken zu können, an dieses "sich Gedanken machen".

Darüber, was hier gerade in unserer Gesellschaft, mit uns und vor allem auch mit mir ganz speziell als Person passiert und was ich zu Hause vielleicht nicht äußern kann. Und ich glaube, dass da momentan die Schule meine religiöse Heimat ist. In Pfarrgemeinden läuft ja gerade nicht soviel. Es fängt zwar langsam wieder an, aber vorher lief da ja nichts. Das bedeutet natürlich auch, dass wir als Religionslehrer gerade eine unglaubliche Verantwortung haben. So sehe ich das für mich.

DOMRADIO.DE: Aber es ist auch eine Chance?

Grommes: Ja, unglaublich. Und ich empfinde es so, dass die Chance bei vielen gefruchtet hat. Ich glaube, dass ich andere Kinder zurückbekomme, wenn wir wieder beschulen.

Das Interview führte Heike Sicconi.


Schüler mit Mundschutz sitzen bei der Prüfungsvorbereitung in einer Turnhalle / © Bodo Schackow (dpa)
Schüler mit Mundschutz sitzen bei der Prüfungsvorbereitung in einer Turnhalle / © Bodo Schackow ( dpa )

Marco beherzigt wie alle seiner Mitschüler die neuen Hygiene- und Abstandsregeln / © Beatrice Tomasetti (DR)
Marco beherzigt wie alle seiner Mitschüler die neuen Hygiene- und Abstandsregeln / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR