Anti-Epidemie-Politik von Israels Regierung in der Kritik

"Hüter, wen behütest Du?"

Sorge vor dem Coronavirus ist berechtigt. Der Umgang mit der Krise sorgt jedoch bei mehr und mehr Israelis für Angst um den Zustand der Demokratie. Nun gingen sie trotz strikter Einschränkungen auf die Straße.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Israelische Frau mit Mundschutz / © Ilia Yefimovich (dpa)
Israelische Frau mit Mundschutz / © Ilia Yefimovich ( dpa )

Not macht erfinderisch. Nach den jüngsten Regeln des Gesundheitsministeriums sind Versammlungen von mehr als zehn Personen gegenwärtig verboten in Israel.

Diese Regelung umgingen findige Bürger, als sie am Donnerstag mit langen Autokonvois gegen das demonstrierten, was sie als einen "Angriff auf die Demokratie" ansehen: mit dem Kampf gegen das Coronavirus begründete weitreichende Eingriffe in die persönlichen Freiheiten, Cyberverfolgung, Unterbrechung des Parlamentsbetriebs und Schließung der Gerichte.

"Hüter, wen behütest Du?"

Hunderte von Menschen machten sich laut Polizeiangaben mit ihren Fahrzeugen auf der Autobahn auf nach Jerusalem, "in langsamem Tempo und Verstöße verursachend". Der Konvoi wurde auf der Höhe von Latrun, etwa 25 Kilometer westlich von Jerusalem gestoppt.

Bis Jerusalem schafften es laut Polizei rund 200 Personen. Wer in die Nähe der Knesset wollte, musste zu Fuß weiter: Großräumig riegelten Einsatzkräfte den Bereich um das Parlamentsgebäude in Jerusalem für den Protest-Verkehr ab. Auch gegen die unmotorisierten Demonstranten gingen sie vor, "um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten".

Mehrere Demonstranten wurden festgenommen. Mit Sprechchören wie "Polizeistaat" und "Hüter, wen behütest Du?" wandten sich die Versammelten gegen das Vorgehen.

Kritik an Netanjahu

Die eigentliche Kritik hingegen gilt Benjamin Netanjahu, dem Noch-Ministerpräsident in der seit mehr als einem Jahr amtierenden Übergangsregierung. Politische Gegner und besorgte Bürger werfen ihm vor, die Coronakrise für seinen persönlichen Machterhalt auszunutzen.

Seine radikalen Maßnahmen gehen vielen zu weit. Besonders scharf in der Kritik steht die Überwachung der Bewegungsprofile von Corona-Erkrankten und ihrer Kontaktpersonen via Handydaten - eine Methode aus dem Arsenal der Terrorbekämpfung. Die Maßnahme wurde zudem an der Knesset vorbei genehmigt und ihre Ausführung in die Hände des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet gelegt - der wiederum einzig dem Regierungschef rechenschaftspflichtig ist.

Tatsächlich scheint Netanjahu politisch von den Auswirkungen der Pandemie zu profitieren. Der Auftakt des Prozesses gegen ihn, ursprünglich geplant für den 17. März, wurde unter dem Notstand um zwei Monate verschoben. Abend für Abend präsentiert der Likud-Chef in Pressekonferenzen zur besten Sendezeit immer drastischere Maßnahmen und Szenarien rund um Covid-19, für Kritiker unnötige Panikmache mit einem einzigen Ziel: Machterhalt.

Bestätigt sehen sie sich durch jüngste Vorgänge im Parlament.

Sitzungen der Knesset vertagt

Knessetsprecher Juli Edelstein riegelte am Mittwoch das israelische Parlament ab und vertagte alle Sitzungen mindestens bis kommenden Montag. Auch die Bildung des Organisationsausschusses ist damit verhindert, ebenso eines Ausschusses, dem das Management der Coronakrise obliegt. Die Neuwahl des Parlamentssprechers, wie sie unter anderem der mit der Regierungsbildung betraute Oppositionsführer Benny Gantz fordert, verhinderte Edelstein mit seinem Veto.

"Corona tötet die Demokratie", kommentierte der prominente israelische Historiker und Bestsellerautor Juval Noah Harari via Twitter die Vorgänge. Netanjahus habe die Wahlen verloren, dann die Knesset geschlossen, den Bürgern angeordnet, zuhause zu bleiben und erlasse nun Notstandsanordnungen nach seinem Belieben. "Dies nennt man Diktatur."

Prominentester Kritiker der außergewöhnlichen Abriegelung der Knesset ist Staatspräsident Reuven Rivlin. Er warnte Edelstein persönlich vor einem Schaden für die demokratische Kultur des Landes und forderte ihn auf, die laufenden parlamentarischen Aktivitäten auch während der Coronavirus-Krise sicherzustellen.

Die Angst um Israels Demokratie, für manche wiegt sie schwerer als die Infektionsgefahr. Trotz des Quasi-Versammlungsverbots gingen sie deswegen jetzt auf die Straße. Der Erfolg des Aufrufs überraschte die Initiatoren. "Gestern Abend hatten wir dreißig Zusagen, gekommen sind heute Tausende", sagte Mitorganisator Amir Hermoni der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Proteste sollen nun weitergehen, bis Israels Demokratie wieder "zurück auf dem richtigen Weg" sei.


Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (dpa)
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu / ( dpa )

Reuven Rivlin, Präsident von Israel / © Ilia Yefimovich (dpa)
Reuven Rivlin, Präsident von Israel / © Ilia Yefimovich ( dpa )
Quelle:
KNA
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