Gesundheitswissenschaftlerin über Altenpflege-Benotungssystem

"Sicherheit vermitteln, wo es keine gibt"

Ab diesem Sommer erhalten Pflegeheime und ambulante Pflegedienste in Deutschland Schulnoten, damit die Bundesbürger sich über die Qualität der Angebote informieren können. Die Bremer Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil sieht diese Art von Qualitätsbeurteilung indes mit Skepsis. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur spricht die emeritierte Professorin für Sozialpädagogik über Zensuren, Pflegeskandale und den Umgang mit dem Alter.

Autor/in:
Annedore Beelte
 (DR)

KNA: Ab diesem Sommer werden Heime und ambulante Pflegedienste mit Schulnoten bewertet. Können Angehörige damit sicher sein, dass sie betagte Menschen in gute Hände geben?
Keil: Bewertungen halte ich für unverzichtbar. Aber man muss sich nur mal selbst fragen: Was haben meine Schulnoten über mein Leben ausgesagt? Das ist sicher nicht nichts. Aber wohl kaum jemand fand seine Schulnoten immer gerecht. Noten wollen Sicherheit vermitteln, wo es keine gibt. Die medizinische und fachliche Dienstleistung kann ich bepunkten. Aber wir wissen inzwischen, dass die menschliche Versorgung mindestens fünfzig Prozent der Pflege ausmacht. Wenn hinter den Schulnoten das Menschenbild kaum zu erkennen ist, werden sie zu Schlagstöcken und Beruhigungspillen im Zertifizierungswahn.

KNA: Kritiker meinen, das Notensystem sei ein politischer Schnellschuss, der die Empörung über Skandalberichte aus der Pflege beruhigen soll. Teilen Sie diese Ansicht?
Keil: Das ist eine Aufregungspolitik, die kein kontinuierliches Interesse an dem Thema hat. Sicher sind die Skandale in der Pflege zu lange verdeckt worden. Jetzt wird mit schnellen Überaktivitäten reagiert. Viele der Bewertungskriterien sind Selbstverständlichkeiten. Trotz mancher Skandale muss ich im Gesundheitswesen doch auf die Einhaltung von Vorschriften vertrauen können. Hinter der Aufregung verbirgt sich, dass die Gesellschaft ihr schlechtes Gewissen abreagiert, indem sie die Altenpflege an den Pranger stellt. Es wird nach Profis und nach dem Staat geschrien, dabei ist der Umgang mit dem Alter eine zivilgesellschaftliche Aufgabe.

KNA: Was läuft denn falsch im Umgang mit dem Alter?
Keil: Schwäche wird in unserer Gesellschaft als Versagen gesehen.
Deswegen gilt Älterwerden als Problem, als Schande. Wenn jemand
sagt: "Ich will lieber sterben, als anderen zur Last fallen", dann hat er etwas falsch verstanden. Das Leben ist ein Wechsel von Geben und Nehmen, Autonomie und Abhängigkeit. Leben im Heim wird als Defizit gesehen: Ist da kein anderer, der sich kümmern könnte? In völliger Verkennung der soziologischen Daten glaubt man, es müsste die Norm sein, in der eigenen Familie alt zu werden. Aus dem Notensystem spricht dieses grundlegende Misstrauen gegenüber Heimen.
Dabei ist es nicht automatisch so, dass Kinder ihre Eltern gut pflegen. Die Verstrickung in die Familiendynamik kann auch ein Hindernis sein.

KNA: Sie sind nicht grundsätzlich gegen eine Bewertung der Pflege.
Was müsste Ihrer Meinung nach erfasst werden?
Keil: Die Betroffenen selbst sind überhaupt nicht einbezogen worden.
Dabei gibt es Zufriedenheitsstudien, die darüber Auskunft geben, was Menschen sich wünschen. Auch die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter ist aussagekräftig. Wir wissen heute, wie sehr sie auf die Qualität der geleisteten Arbeit zurückwirkt. Es wird in dem Katalog ständig auf die "vereinbarte Leistungserbringung" verwiesen.
Eine Mitarbeiterin eines ambulanten Pflegedienstes sagte mir einmal:
"Wir haben alle einen Waschzwang." Mir wäre lieber, sie würde die drei Minuten, die für das Waschen vorgesehen sind, statt dessen mit dem Pflegebedürftigen reden, wenn sie sein Bedürfnis danach spürt.
Die Vereinbarung müsste sich an den Bewohner anpassen, nicht umgekehrt.

KNA: In die Note soll auch eine Befragung zufällig ausgewählter Bewohner einfließen. Ist das ein Weg, die Anliegen der Betroffenen zu berücksichtigen?
Keil: Dabei wird nicht viel herauskommen. Die Leute sind ja von den Pflegenden abhängig. Besser könnte man sich angucken: In was für einer Atmosphäre frühstücken die Leute? Können sie die Musik hören, die sie mögen? Oder man lässt die Leute einfach erzählen: Wie war der Tag heute?

KNA: Wenn die Noten nur bedingt aussagekräftig sind - woran könnte man sich orientieren, wenn man für einen pflegebedürftigen Angehörigen einen Heimplatz sucht?
Keil: Man sollte sich einige Häuser angucken und sich dabei fragen:
Was braucht meine Mutter? Fühlt sie sich in der Stadt oder auf dem Land wohler? Welches Milieu spricht sie an? Ein Doppelzimmer kann auch eine Erlösung sein für einen Menschen, der einsam war.