Gemeinden tauschen sich zur Studie des Bistums Münster aus

"Inwieweit sind Kleriker zur Machtabgabe bereit?"

Wie gehen die Gemeinden im Bistum Münster mit den Ergebnissen der jüngst vorgestellten Missbrauchsstudie um? Drei Pfarreien in Recklinghausen setzen auf Offensive und haben zum Gesprächsabend eingeladen. Was ist dabei herausgekommen?

Felix Genn, Bischof von Münster, bei der Vorstellung der Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch im Bistum Münster / © Lars Berg (KNA)
Felix Genn, Bischof von Münster, bei der Vorstellung der Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch im Bistum Münster / © Lars Berg ( KNA )

DOMRADIO.DE: Sie haben diesen Gesprächsabend mit initiiert und im Vorfeld kräftig die Werbetrommel gerührt. Wie war die Resonanz?

Matthias Gramann, Leiter des jugendpastoralen Zentrums Areopag in Recklinghausen / © Michaela Kiepe, Bischöfliches Generalvikariat (Bistum Münster)
Matthias Gramann, Leiter des jugendpastoralen Zentrums Areopag in Recklinghausen / © Michaela Kiepe, Bischöfliches Generalvikariat ( Bistum Münster )

Matthias Grammann (Pastoralreferent, Jugendseelsorger und Schulungsreferent für Präventionsschulungen im Bistum Münster): Wir haben schon im Vorfeld unterschiedliche Rückmeldungen erhalten. Viele haben gesagt haben, es sei wichtig, so eine Veranstaltung vor Ort zu machen. Es gibt aber auch andere Stimmen, die gesagt haben, dass es langsam zu dem Thema genug sei. Diese Rückmeldung haben wir auch bekommen.

Von der Teilnehmerzahl her war es überschaubar. Wir wissen nicht ganz genau, woran es gelegen hat. Auf der einen Seite war es vielleicht die Müdigkeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die uns manche Leute gespiegelt haben. Vielleicht haben wir auch nicht jede oder jeden Interessierten mit unserer Werbung erreicht. Das kann ich nicht genau sagen.

An dem Abend war die Resonanz für die Veranstaltung auf jeden Fall sehr gut. Wir haben, glaube ich, sehr gut die Studienergebnisse vorstellen können. Wir haben intensiv miteinander gesprochen.

Ein besonderer Moment war das Statement von Sara Wiese, einer Betroffenen, die die Studie aus ihrer Sicht eingeordnet hat. Es war noch ein weiterer Betroffener da, der seine Geschichte auch nochmal erzählt hat.

DOMRADIO.DE: Die Studie ist veröffentlicht und die Gemeinden vor Ort müssen irgendwie darauf reagieren. Wie sieht die Situation in Recklinghausen aus?

Gramann: Insgesamt muss man sagen, dass die Zahlen schwer zu erfassen und schwer zu handhaben sind. Neu bei dieser Studie ist, dass am Anfang Fälle von den Historikerinnen und Historikern detailliert vorgestellt werden. Das schockiert alle, die es lesen. Diese Deutlichkeit, mit der die Fälle in der Studie gezeichnet werden, macht was mit einem. Das macht was bei allen, die sich mit der Studie auseinandersetzen haben.

Auf der anderen Seite gibt es, glaube ich, wirklich eine große Gruppe von Menschen in den Gemeinden, die eigentlich mit dem Thema nichts mehr machen wollen, weil sie das Gefühl haben, dass man sich seit 2010 damit beschäftigt. Und damit muss es irgendwann mal gut sein. Das ist nicht meine Position. Das kann ich gleich dazu sagen.

Matthias Grammann

"Die Amtsfrage ist eine der großen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen."

DOMRADIO.DE: Bischof Felix Genn hat eine Stellungnahme zur Studie abgegeben. Er will noch mehr für die Opfer tun, noch mehr auf die zahlreichen Fälle schauen. Er übernimmt Verantwortung, tritt aber nicht zurück. Wie schätzen Sie die Reaktion von Bischof Genn ein?

Gramann: Sie fragen dies einen Mitarbeiter von Bischof Genn. Ich will trotzdem versuchen, das in aller Freiheit zu beantworten. Ich persönlich nehme Bischof Felix seine Aussagen dazu ab, dass er eine Lernkurve gemacht hat und tun will, was er kann.

An der ein oder anderen Stelle frage ich mich, ob die jetzt genannten Konsequenzen weit genug gedacht sind. Vieles, was er an Konsequenzen angekündigt hat, sind Vorgriffe von dem, was auf dem Synodalen Weg besprochen wird. Das finde ich auch vernünftig, weil der sich ja genau mit dem Thema beschäftigt: Wie muss sich Kirche so gestalten, dass sexueller Missbrauch keine Chance mehr hat?

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Wie sieht es mit Macht aus? Da hat Bischof Genn einiges zu gesagt. Ob er wirklich in aller Konsequenz daran gehen will, letztlich auch an die Amtsfrage, ist schwierig. Das kann er auch so nicht.

Und diese Amtsfrage ist gestellt: Inwieweit sind Kleriker zur Machtabgabe bereit? Das ist eine der großen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.

DOMRADIO.DE: Im Ruhrgebiet sagt man gerne den Satz: "Die Karre ist ziemlich im Dreck gefahren." Wie kriegen wir die Karre denn nun wieder raus?

Gramann: Was ist denn in diesem Zusammenhang die "Karre"? Ich möchte nicht gerne die Perspektive einnehmen und sagen, dass uns die Leute davonlaufen und wir deswegen jetzt was tun müssen, weil alle unzufrieden damit sind. Meine Perspektive ist eine andere.

Erst mal geht es darum, den Betroffenen von sexueller Gewalt in der Kirche Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und unsere Geschichte aufzuarbeiten. Auf dem Feld der Prävention haben wir in den letzten Jahren viel getan. In der Aufarbeitung sind wir gerade mittendrin. Dann geht es darum, die Kirche am Ende so zu gestalten, dass Missbrauch keine Chance hat und sie damit auch evangeliumsgemäßer wird. Es geht um eine inhaltliche Frage.

Matthias Gramann

"Bei jüngeren Menschen erlebe ich große Offenheit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen."

DOMRADIO.DE: Sie sind in der Jugendseelsorge aktiv, leiten das jugendpastorale Zentrum "Areopag" in Recklinghausen. Und Sie sind Schulungsreferent für Präventionsschulungen. Wie gehen Jugendliche mit dieser Situation um?

Gramann: Das muss ich etwas differenzieren. Für die Menschen, die bei uns ins Café kommen und in der Regel weniger mit Kirche zu tun haben, ist es zumindest nicht so ein Thema, dass sie uns damit konfrontieren würden. Ich bin darauf noch nicht angesprochen worden. Viele, die nicht im inneren Kontext der Kirche sind, kriegen zumindest die aktuelle Studie auch nicht so mit.

In den Präventionsschulungen erlebe ich gerade bei jüngeren Menschen, aber auch bei vielen, die schon länger im Dienst sind, große Offenheit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und zu lernen, wie man Prävention betreibt. Natürlich ist an allen Stellen bei den Engagierten eine große innere Unzufriedenheit zu spüren, weil viele das Gefühl haben, es geht in der Kirche zu langsam vorwärts.

Das Interview führte Oliver Kelch.

Studie: Flächendeckender Missbrauch im Bistum Münster

Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer im Bistum Münster ist nach einer Studie der Universität Münster deutlich höher als bekannt. Laut der über zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams gab es von 1945 bis 2020 fast 200 Kleriker und bekannte 610 minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Damit sind 4,17 Prozent der Priester betroffen. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5000 bis 6000 Opfern aus.

 Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch in Münster
 / © Lars Berg (KNA)
Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch in Münster / © Lars Berg ( KNA )
Quelle:
DR