Moraltheologe über Entscheidungen in der Corona-Krise

Ganz ohne Kuscheln geht es nicht

Die Coronakrise verlangt Entscheidungen: von der Staatsmacht, der Kirche und jedem einzelnen Bürger. Der Regensburger Moraltheologe Rupert Scheule gibt Antworten, von Hamsterkäufen über Kuschelbedürfnisse bis zur Telefonbeichte.

Eine innige Umarmung / © Jacob Lund (shutterstock)

KNA: Senioren zählen zur Hochrisikogruppe und gehen trotz Hilfsangeboten weiter einkaufen. Weisheitliche Gelassenheit oder bodenloser Leichtsinn?

Prof. Dr. Rupert Scheule (Regensburger Moraltheologe): Ich glaube, es ist eher das erste. Meine alten Eltern haben als Teenager Bombennächte, Hunger und auch Verfolgung erlebt. Da ist man vielleicht insgesamt weniger aufgeregt angesichts von Existenz-Bedrohungen. Trotzdem wäre es besser, sie würden angebotene Unterstützung annehmen. Helfen und sich helfen lassen ist seit jeher das, was unsere Spezies überleben lässt.

KNA: Die Oma lebt allein zuhause und ist weit weg. Kann man sie jetzt noch zu sich holen - in die Großstadt?

Scheule: Das sollten Sie besser die Experten vom Robert Koch-Institut fragen. Meine Intuition sagt mir: Die Oma sollte besser dort bleiben, wo sie ist, wenn es ihr dort gut geht. Sie können ja mehrmals am Tag mit ihr telefonieren.

KNA: Liebe braucht Zärtlichkeit. Sollten Paare untereinander und mit ihren Kindern jetzt gar nicht mehr kuscheln?

Scheule: Das ist nicht zu machen. Unser zwischenmenschlicher Nahraum muss bewohnbar bleiben. Aber außer mit unseren Liebsten sollten wir nicht noch mit allen möglichen anderen Leuten kuscheln. Als Moraltheologe würde ich das freilich auch unabhängig von Corona sagen.

KNA: Nächstenliebe und Sicherheitsabstand - wo ist die Grenze?

Scheule: So seltsam es klingt und so sehr sich unsere christlichen Reflexe wehren: In diesen Zeiten ist Sicherheitsabstand Nächstenliebe. Ich freue mich aber schon jetzt auf den Tag, an dem dieser Satz nicht mehr stimmt.

KNA: Kirchliche Rituale leben auch von Körperkontakt wie Salbung und Handauflegen. Sind berührungslose Sakramente denkbar?

Scheule: Dass es keine Sakramente im Internet gibt, wie der Päpstliche Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel 2002 feststellte, habe ich schon vor Corona für veraltet gehalten. Richtig ist: Es gibt keine Sakramente ohne die Möglichkeit, Heil als real zu erfahren. Aber warum soll das nicht im Netz möglich sein? Wir alle leben doch schon lange sehr reale Beziehungen im Netz mit Diensten wie Whatsapp und Instagram. In Zeiten von Corona und Digitalisierung heißt das für uns als Kirche: bitte mehr Fantasie!

KNA: Also auch Beichte per Telefon?

Scheule: Warum nicht? Die Glaubenskongregation hat 1989 festgestellt, dass sie stets gültig und in extremen Ausnahmefällen auch erlaubt ist. Vielleicht findet der eine oder die andere im Corona-Shutdown ja die Ruhe und den Ernst, es mal wieder mit dem Sakrament der Versöhnung zu versuchen? Dann ran ans Handy und den Pfarrer anrufen.

Nach der flächendeckenden Absage von Gottesdiensten, Konferenzen und Besprechungen haben Priester freie Kapazitäten.

KNA: Auch die Kirche kennt eine Art Notstandsrecht. Wäre es jetzt nicht höchste Zeit, ausgebildete Laientheologen in der Klinikseelsorge auch offiziell mit der Spendung von Sakramenten zu beauftragen?

Scheule: Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass sich solche Innovationseffekte gleichsam als Leidensgewinn aus großen Krisen ergeben. Das war bei der Wiederbelebung des Ständigen Diakonats nach den grundstürzenden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs so. Ich finde auch, dass die Krankensalbung nicht Priestern vorbehalten bleiben müsste. Warum nicht auch Diakone und andere diakonisch wirkende Männer und Frauen der Kirche?

KNA: Wie ist das Handeln von Seelsorgern zu beurteilen, die sich bemüßigt fühlen, gegen staatliche oder kirchliche Vorschriften zu verstoßen, um anderen Beistand zu leisten?

Scheule: Wenn dieser Beistand notwendig und nicht anders zu leisten ist, ist er ethisch gerechtfertigt. Moral und Recht sind nicht notwendig deckungsgleich. Allerdings müssen die Seelsorger dann auch bereit sein, ohne Gejammer die staatlichen und kirchlichen Sanktionen zu tragen.

KNA: Gottesdienste sind inzwischen verboten. Dennoch haben die Christen selbst in schlimmsten Verfolgungszeiten immer zusammen gefeiert, notfalls geheim. Nur mit dem Unterschied, dass die Gefahr jetzt weniger von der Staatsmacht droht.

Scheule: Das macht genau einen wichtigen Unterschied! Wenn wir in geschlossener Formation Bittprozessionen abhalten oder gemeinsam in Lourdes-Wasser baden, wie es mancher offenbar für sinnvoll hält, dann tun wir nichts gegen das Virus, sondern befördern es. Wir wissen heute, dass wir Heil nicht mit Heilung verwechseln dürfen. Es gilt, das Heil zu bezeugen, aber ohne Heilungschancen oder Gesundheit zu gefährden. Gemeinschaft ist und bleibt das Lebenselixier der Kirche.

Nun ist Einfallsreichtum gefragt, diese Gemeinschaft vorläufig anders als physisch zu organisieren. Tun wir nicht so, als sei das nicht möglich. Es geht. Theologisch, spirituell und auch technisch.

KNA: Jesus ruft an vielen Stellen der Bibel zur vollständigen Hingabe auf: Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wie ist das in Zeiten einer Pandemie zu verstehen?

Scheule: Nicht als Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben. Aber vor dem sicheren Tod können wir uns halt nie retten. Eine stets nur vorläufig mögliche Todesmeidung sollte daher nicht das einzige Lebensziel sein. Wer glaubt, dass sein Leben so oder so in den Armen des liebenden Christus endet, erfährt wohl auch im Pandemie-Alltag mehr Weite. Da kann man es dann auch ertragen, wenn einem ein anderer die letzte Klopapierrolle vor der Nase wegkauft.

Das Interview führte Christoph Renzikowski.


Prof. Dr. Rupert Scheule  / © Dr. Tilman Becker (privat)
Prof. Dr. Rupert Scheule / © Dr. Tilman Becker ( privat )
Quelle:
KNA