"Frings fragt" mit Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt

"Wir haben einen Aufstand der Anständigen"

Unter dem Titel "Frings fragt" bietet der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Marc Frings, Gespräche vor dem Katholikentag mit gesellschaftlich relevanten Personen an. Diesmal mit Katrin Göring-Eckart.

Katrin Göring-Eckardt / © Julia Steinbrecht (KNA)
Katrin Göring-Eckardt / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Marc Frings (Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ZdK, und Mitglied der Katholikentagsleitung): "Deutschland, einig Vaterland" - Das ist der Titel eines Podiums, bei dem Sie am Katholikentag mitdiskutieren werden. Seit der deutschen Wiedervereinigung sind 34 Jahre vergangen. Wie steht es um das geeinte Deutschland?

Katrin Göring-Eckardt (Grünen-Politikerin und Bundestagsvizepräsidentin): 34 Jahre nach der Wiedervereinigung und 35 Jahre nach der friedlichen Revolution, mit der alles begonnen hat. Ich würde sagen, wir sind kein einig Vaterland. Das klingt ein bisschen nach Einheitsbrei. Wir sind sehr unterschiedlich, sehr vielfältig. Das ist auch gut so, in jeder Hinsicht. 

Katrin Göring-Eckardt

"Ich glaube, dass wir vor allen Dingen, zu wenig aufeinander achten, zu wenig neugierig aufeinander sind und das eine oder andere Vorurteil mit uns rumtragen."

Gleichwohl muss man sagen, dass man auf der Deutschlandkarte noch große Unterschiede zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland sieht. Das zeigen ein ganze Reihe von Statistiken, zum Beispiel beim Erben: Im Osten wird sehr wenig vererbt, im Westen sehr viel. Beim Einkommen gibt es nach wie vor Unterschiede, auch bei der Frauenerwerbstätigkeit. Im Osten sind viel mehr Frauen beschäftigt als im Westen. Und wir haben noch mehr Unterschiede. Ich glaube, dass wir vor allen Dingen zu wenig aufeinander achten, zu wenig neugierig aufeinander sind und das eine oder andere Vorurteil mit uns rumtragen.

Frings: Wir glauben ja, dass viele aus Westdeutschland nach Erfurt kommen werden, um am Katholikentag dabei zu sein. Was kann der Westen vom Osten lernen?

Göring-Eckardt: Der Osten hat 35 Jahre lang große Umwälzungen erlebt. Wir leben in einer Zeit der riesigen Transformation und Veränderung global, national, europäisch. Die Menschen, die diese 35 Jahre Veränderung erlebt und gemeistert haben, die Rückschläge erlitten haben und mit Fehlern umgehen mussten, tragen ein riesiges Potenzial in sich, um die Resilienz der gesamten Gesellschaft besser zu machen. Und wir sollten auf dieses Potenzial nicht verzichten.

Marc Frings / © Julia Steinbrecht (KNA)
Marc Frings / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Frings: Ein in Text gegossenes Dokument der Resilienz ist das Grundgesetz, das in diesen Tagen 75 Jahre alt wird. Wie schauen Sie auf dieses Dokument, das so relevant ist für den deutschen Prozess nach dem Krieg?

Göring-Eckardt: Das Grundgesetz ist ein großer Text. Wenn man ihn heute noch so schreiben könnte, wenn man die Fähigkeit dazu hätte, müsste man ihn genau so wieder schreiben. Das ist sehr zeitgemäß. Es wäre damals schlau gewesen, parallel zum Prozess der Deutschen Einheit auch noch mal über unsere gemeinsame Verfassung zu diskutieren. Am Runden Tisch gab es solche Ideen, wie beispielsweise das Recht auf Wohnen oder das Recht auf Arbeit einzubeziehen. Ich glaube, das hätte die Zeit ganz schön verändert. Ich bin nicht in einer Zeit der Diktatur groß geworden. Und trotzdem sage ich heute: Der allererste Satz, der uns verbindet, auf dem wir fest stehen, "Die Würde des Menschen ist unantastbar" ist das große Thema. Und ich werde immer alles dafür tun, damit uns diese Freiheitsrechte erhalten bleiben.

Frings: Es gibt Akteure, die das Grundgesetz herausfordern. Es stehen relevante Landtagswahlen an, sowie die Europawahl. Die große Herausforderung ist sicherlich die AfD. Was können wir alle, die Politik und die Kirchen tun, damit der prognostizierte Wahlsieg keiner wird?

Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechtsextremismus stehen auf dem Kirchplatz in Jena und halten u.a. Schilder gegen die AfD hoch. Mit der Demonstration wollen die Teilnehmer ein Zeichen des Widerstands gegen rechtsextreme Umtriebe setzen. / © Bodo Schackow (dpa)
Teilnehmer einer Demonstration gegen Rechtsextremismus stehen auf dem Kirchplatz in Jena und halten u.a. Schilder gegen die AfD hoch. Mit der Demonstration wollen die Teilnehmer ein Zeichen des Widerstands gegen rechtsextreme Umtriebe setzen. / © Bodo Schackow ( dpa )

Göring-Eckardt: Prognostiziert bedeutet, dass man noch was machen kann. Deswegen kann ich nur sagen, dass alle Demokratinnen und Demokraten sich gemeinsam überlegen sollten, was wir gegen den Populismus, die Falschinformationen, die Entgrenzung, die Enthemmung der Sprache im Netz, die Gewalt auf den Straßen tun können. Das schadet unserer Demokratie massiv. Und es ist gut, dass nicht nur Leute, die in demokratischen Parteien sind, sich zusammentun, sondern viele Menschen in unserem Land. 

Menschen, die sich nie für Politik interessiert haben sagen: "So wollen wir nicht gesehen werden und nicht sein." Wir haben einen Aufstand der Anständigen, die jetzt zu Zuständigen werden. Gerade habe ich in Erfurt eine 80-jährige Frau getroffen, die gesagt hat, dass sie gar nicht wissen wie das gehe mit so einer Demonstration. Aber sie ist hingegangen, weil sie fand, dass das jetzt der Moment sei, um in dieser Bürgergesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Das halte ich für sehr zentral. Und es macht mich auch hoffnungsvoll, dass das gerade geschieht.

Frings: Sie haben vor wenigen Tagen bei "Hart aber fair" gesagt, dass die Partei demokratisch gewählt wurde, aber noch lange keine Demokraten beinhalte. Ist es dann nicht der nächste Schritt, über ein Parteienverbot nachzudenken?

Katrin Göring-Eckardt

"Die AfD erweckt manchmal einen völlig anderen Eindruck als das was in ihrem Programm steht."

Göring-Eckardt: Nachdenken muss man darüber auf jeden Fall. Das Urteil von Münster hat noch mal klargestellt, dass die AfD einen rechtsextremen Verdachtsfall darstellt. Ich selbst bin Mitglied eines Verfassungsorgans. Ich kann nicht weggucken, wenn jemand die Verfassung in Frage stellt. 

Und deswegen müssen jetzt Argumente gesammelt werden. Und dann muss man überlegen, wie man so einen Antrag stellen kann und ob er erfolgsversprechend ist. Manche sagen ja, man müsse die AfD politisch bekämpfen. Selbstverständlich muss man das. Man muss darüber reden, was es bedeutet, wenn wir aus der Europäischen Union austreten, wenn wir den Euro abschaffen. Wenn Frauen und Männer nicht mehr gleichberechtigt sind. Was es bedeutet, dass Kinder mit Behinderung nicht mehr in eine normale Schule gehen sollen und, und, und. Das müssen wir natürlich besprechen. 

Die AfD erweckt manchmal einen völlig anderen Eindruck als das was in ihrem Programm steht. Und gleichzeitig sollten wir uns nicht wegducken, wenn unsere Verfassung, die das Parteienverbot vorsieht, angegriffen wird und wir dieses Instrument vielleicht sogar nutzen müssen.

Frings: Ich komme auf den Begriff der Enthemmung zurück. Sie werden beim Katholikentag über Hate Speech, speziell gegen Frauen gerichtet, sprechen, zusammen mit unserer Präsidentin Irme Stetter-Karp und Luisa Neubauer. Mittlerweile sind wir an einem Niveau angekommen, auf dem es nicht mehr nur um gewaltsame Rhetorik geht, sondern um konkrete gewaltsame Taten. Sie selbst wurden in Brandenburg bedrängt von alkoholisierten Männern und konnten eine Veranstaltung nicht verlassen. Ist es eine neue Form der Normalität, dass Wahlkämpfer und Walhkämpferinnen mutig sein müssen, um sich zu engagieren?

Katrin Göring-Eckardt

"Demokratinnen und Demokraten weichen nicht."

Göring-Eckardt: Ich glaube, es gehört in der Tat Mut dazu, sich zu engagieren. Politisch und gesellschaftlich. Und es gehört auf Dörfern oder in Kleinstädten sehr viel mehr Mut dazu als am Brandenburger Tor, wo man in einer relativ anonymen Menge ist und einen die Nachbarn nicht sehen. Das ist so! 

Gleichzeitig stelle ich auch fest, dass die allermeisten sagen: "Wir lassen uns jetzt hier nicht wegschicken." Demokratinnen und Demokraten weichen nicht. Und ich sage es mal für mich persönlich: Nach diesem Vorfall, nach diesem Bedrängen habe ich von sehr vielen Menschen, die ich in meinem Leben noch nie getroffen habe und nicht kenne, Nachrichten bekommen: "Wenn du das nächste Mal irgendwohin gehst, sag Bescheid, wir kommen mit." Und dieses "Sag Bescheid" ist für mich die Zivilgesellschaft in unserem Land.

Frings: Sie sind Bundestagsvizepräsidentin, gehören innerhalb der Grünen zu den prominenten Christinnen. Glauben Sie, dass Kirche noch mit ihren Anliegen durchdringt, hier im Parlamentsbetrieb?

Göring-Eckardt: Ja, natürlich. Kirchen sind nach wie vor ein wichtiger Gesprächspartner, und das wird, glaube ich, auch so bleiben. Vielleicht muss man auch sagen: Christinnen und Christen sind wichtige Gesprächspartner. Die Kirchen stehen als Institution unter Druck. Das spüren wir. 

Insgesamt werden wir weniger katholisch oder weniger evangelisch, aber ich glaube, dass es nicht um die Zahl der Christinnen und Christen geht, sondern darum, was wir tun. Um all das soziale, diakonische, caritative Engagement, das da ist und das für alle sehr wichtig ist. 

Es geht aber auch um grundsätzliche Werte. Und natürlich haben Christinnen und Christen nicht immer die gleiche Meinung. Und auch das ist etwas Gutes, dass wir eine Streitkultur üben, in der wir uns hinterher noch in die Augen blicken können oder vielleicht schon während des Streits einen Schritt auf die andere Person zugehen können, weil wir den Argumenten zuhören und annehmen, dass die andere Person auch Recht haben könnte. Das ist etwas ziemlich Ungewöhnliches, aber eigentlich ist das Normalität.