"Frings fragt" mit "Memorial"-Mitgründerin Irina Scherbakowa

"Putin hat noch sehr viel Kraft, um diesen Krieg zu führen"

Unter dem Titel "Frings fragt" bietet der Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Marc Frings, eine Gesprächsreihe vor dem Katholikentag mit gesellschaftlich relevanten Personen an. Diesmal mit Irina Scherbakowa.

Marc Frings (Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ZdK, und Mitglied der Katholikentagsleitung): "Frings fragt" heute mit einem ganz besonderen Gast, Dr. Irina Scherbakowa, für die das Leitwort "Zukunft hat der Mensch des Friedens" im Grunde genommen ein Lebensmotto ist. Unter diesem Leitwort tagen vom 29. Mai bis zum 2. Juni viele Menschen bei 103. Deutschen Katholikentag in Erfurt. Vielen Dank, dass Sie bei uns sind. 

Irina Scherbakowa (Russische Germanistin und Kulturwissenschaftlerin sowie Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde): Danke für die Einladung.

Irina Scherbakowa

"Russlands Angriff auf die Ukraine war eine völlige Zerstörung der Weltfriedensordnung."

Frings: Sie sind studierte Germanistin und in Moskau geboren. Vor allem sind Sie in Deutschland als Gründungsmitglied der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" bekannt, die vor zwei Jahren den Friedensnobelpreis bekommen hat. Wir treffen uns in Berlin. Das ist eine Folge der schrecklichen Entwicklungen der letzten Jahre. Vor über zwei Jahren hat Russland die Ukraine überfallen. Sie sind eine Frau, die gegen Unrecht gekämpft hat, die sich sehr für Vergangenheitsbewältigung engagiert hat und das immer noch tut. Wie blicken Sie jetzt auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine?

Scherbakowa: Es war natürlich an diesem Tag des Kriegsbeginns eine absolute Katastrophe. Eigentlich konnte man diese Katastrophe voraussagen, so würde ich es bezeichnen. Im Jahr 2014 gab es die Krim-Annexion und auch danach gab es entfesselte Kriegshandlungen in der Ostukraine. Einige Teile der Ostukraine waren schon besetzt. Ich glaube, dass die ganze Zeit eine absolut anti-ukrainische Propaganda lief. Man konnte schlimme Sachen erwarten, aber dass sich Putin trotz allen Anzeichen dazu entschließt, war kaum vorstellbar.

Es gibt ja immer diese Diskrepanz zwischen einem menschlichen Gefühl und einem historischen Gefühl, würde ich als Historikerin oder als eine Beobachterin der Ereignisse sagen. Die Truppen sammelten sich an und eigentlich deutete die ganze Rhetorik darauf hin, dass es zum Krieg führen würde. Aber als Mensch kann man sich das überhaupt nicht vorstellen und nicht glauben. 

In den Monaten vor dem Krieg war "Memorial" vom Obersten Gericht der Russischen Föderation gerade "liquidiert" worden. Es herrschte eine unglaubliche Spannung. Aber in dieser Nacht, in der ich eine SMS bekommen habe, dass Kiew bombardiert wird, fragte ich mich, wo ich denn eigentlich bin? Bin ich im Juni 1941 aufgewacht? Es war absolut unvorstellbar. Russland bombardiert Kiew. Deutschland bemühte sich irgendwie dort Frieden zu schaffen, steht aber doch völlig ratlos vor diesen Tatsachen.

Es war in meinen Augen eine absolute Katastrophe, eine völlige Zerstörung der Weltfriedensordnung, die nach 1945 geschaffen worden ist und ein unglaubliches Verbrechen gegen das ukrainische Volk und eine Katastrophe für Russland.

Marc Frings / © Julia Steinbrecht (KNA)
Marc Frings / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Frings: Sie erwähnen das Engagement der Bundesregierung, die eine militärische Zeitenwende ausgerufen hat. Die Bundesregierung ist heute eine enge Verbündete im Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer gegen Russland. Gleichzeitig sagen Sie, deutete vieles darauf hin, was 2022 passiert ist. Waren die Europäer möglicherweise naiv? Sie sprachen bereits von der Krim 2014, die Zeichen waren doch sehr eindeutig. Waren wir zu gnädig mit Putin?

Scherbakowa: Ich glaube, dass es die Menschen und auch die Politiker nicht wirklich wahrgenommen haben, wo wir schon angekommen gewesen sind. Es war für sie unvorstellbar. "Naiv" ist vielleicht für Politiker kein gutes Wort. Wenn man als Politiker "naiv" ist, dann ist man im falschen Job. Ich glaube, man blieb in den alten Vorstellungen und Schranken gefangen. Man konnte sich das einfach nicht vorstellen, dass es so weit gehen würde.

Man hatte immer noch das Gefühl, dass man sich zwar mit Putin nicht versöhnen könne, aber wenigstens einen Deal machen könne. Das war, glaube ich, eine sehr falsche Politik nach 2014, nach dem gescheiterten Minsker Friedensabkommen und nach der Nord-Stream-Geschichte. 

Irina Scherbakowa

"In Russland sind diejenigen, die gegen den Krieg sind die Minderheit. Sonst würde es Putin nicht geben."

Dieses zynische Verhalten Putins ist sehr wichtig vor allem in diesen Tagen und mit Blick auf den Katholikentag zu erwähnen. Denn erstens sind alle käuflich, auch im Westen. Und zweitens sind alle Werte eigentlich nur erdacht. Es gibt keine Zivilgesellschaft. Es hat alles seinen Preis und man wird sich damit abfinden müssen.

Ich glaube, dass Putin damit gerechnet hat, wenn er Kiew in drei Tagen einnimmt, dass dann der Westen es genau so handhaben wird wie schon im Jahr 2014 mit der Krim, also dass der Westen vor den Tatsachen steht, diese irgendwie zu verhandeln versucht, um die ganze Sache abzumildern.

Gott sei Dank ist der Westen in diesen Tagen in der Wirklichkeit aufgewacht. Obwohl das in meinen Augen viel früher hätte geschehen müssen.

Berlin: Ein Teilnehmer der Kundgebung gegen die drohende Auflösung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial hält vor der russischen Botschaft ein Schild mit der Aufschrift "Wie are Memorial" hoch.  / © Monika Skolimowska (dpa)
Berlin: Ein Teilnehmer der Kundgebung gegen die drohende Auflösung der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial hält vor der russischen Botschaft ein Schild mit der Aufschrift "Wie are Memorial" hoch. / © Monika Skolimowska ( dpa )

Frings: "Memorial" wurde bereits vor dem Angriffskrieg abgewickelt, wie Sie sagten. Die Arbeit an sich ist so gar nicht mehr richtig möglich. Sie sitzen jetzt gerade hier in Berlin. Sie haben weiterhin Freundinnen, Freunde, Familie, Kolleginnen und Kollegen in Moskau. Wie geht es ihnen vor Ort? Wie kann man dort noch überleben, wenn man weiterhin das politische Unrechtsbewusstsein hat?

Scherbakowa: Die Minderheit der Menschen ist gegen diesen Krieg. Natürlich bilden sie die Minderheit, sonst würde es diesen Krieg nicht geben und sonst würde es auch Putin nicht geben. Aber diese Minderheit ist nach wie vor groß, obwohl sehr viele Menschen Russland verlassen mussten und müssen. Das ist die größte politische Emigration aus Russland seit der Oktoberrevolution.

Georgien, Tiflis: Jugendliche mit Blumen versammeln sich auf einer Straße zum Gedenken an den verstorbenen russischen Oppositionellen Nawalny. / © Shakh Aivazov/AP/dpa (dpa)
Georgien, Tiflis: Jugendliche mit Blumen versammeln sich auf einer Straße zum Gedenken an den verstorbenen russischen Oppositionellen Nawalny. / © Shakh Aivazov/AP/dpa ( dpa )

Diese Menschen sind in dem Unterdrückungssystem absolut gefangen, das immer härter wird. Jeden Tag werden irgendwelche Gesetze angenommen oder noch verschärft. Zensur wird eingeführt und so weiter. Die Möglichkeit irgendwie zu fungieren und "Nein" zu sagen, ist unglaublich begrenzt und mit großen Gefahren verbunden.

Wir leben hier in ständiger Angst um unsere Kollegen und sie verwirklicht sich auch. Vor jetzt fast zwei Monaten ist unser Mitbegründer von "Memorial", mein alter Kollege und Freund Oleg Orlow, für einen einzigen Satz zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Weil er "in dem Land, das den Faschismus mal besiegt hat, siegt wieder Faschismus" geschrieben und gesagt hat.

Irina Scherbakowa

"Es gibt viele Menschen, die gegen diesen Krieg sind. Aber sie sind nicht genug für eine Umwälzung in Russland."

Frings: Alexei Nawalny, der ebenfalls wichtige Oppositionsarbeit in Russland geleistet hat, ist dieses Jahr gestorben. Für mich als jemand, der in Deutschland lebt, waren das sehr beeindruckende Bilder, wie viele Menschen trotz der zu erwartenden Repressalien zur Beerdigung gegangen sind, zu seinem Grab gehen und damit auch ein deutliches Signal setzen. Glauben Sie, dass dieser Tod, so schrecklich er war, einen Moment des Wandels ausgelöst hat? Trauen Sie sich jetzt wieder mehr auf die Straße?

Scherbakowa: Das war ein tragischer Moment. Nawalny hatte sehr viele, ich würde nicht sagen Anhänger, aber Menschen, die seine Haltung sehr geachtet haben und ihn vor allem für seine Rückkehr nach Russland und für seinen Mut bewundert haben.

Moskau: Männer tragen den Sarg und ein Porträt des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny aus der Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone Lindere meine Trauer im südöstlichen Bezirk Marjino / © Uncredited/AP (dpa)
Moskau: Männer tragen den Sarg und ein Porträt des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny aus der Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone Lindere meine Trauer im südöstlichen Bezirk Marjino / © Uncredited/AP ( dpa )

Aus Protest für diesen Mord sind sie zu seinem Grab gegangen. Das war ein Zeichen, wovon ich schon vorher gesprochen habe, dass es viele Menschen gibt, die anders denken und gegen diesen Krieg sind. Aber das ist nicht genug für eine Umwälzung in Russland.

Frings: Sie sind auch eine Analystin und gute Kennerin der Situation in Deutschland. Sie engagieren sich auch rund um die Gedenkstätte Buchenwald. Unweit von Buchenwald wird in Erfurt der Katholikentag stattfinden. Wir erleben spätestens seit Herbst letzten Jahres, seit den terroristischen Übergriffen der Hamas auf Israel, wieder mehr Antisemitismus in Europa. Was muss in Deutschland passieren, damit dieser Antisemitismus nicht weiter um sich greifen kann?

Scherbakowa: Das ist eine sehr schwere Frage, weil sich dieser Antisemitismus oft tarnt und auch für viele Menschen, auch für die junge Menschen täuschend ist. Sie glauben, sie stehen für die rechte Sache. Aber in Wirklichkeit unterstützen sie Antisemitismus oder Gewalt. Da stellt sich die Frage an die ältere Generation, ob wir wirklich gut genug und überzeugend genug vermittelt haben, was Terror bedeutet, egal mit welchen Gründen er gerechtfertigt wird und welchen Wert ein Menschenleben hat und wie schnell Antisemitismus in Gewalt umkippen kann.

Wladimir Putin / © Mikhail Klimentyev (dpa)
Wladimir Putin / © Mikhail Klimentyev ( dpa )

In dieser Situation ist ein Appell an die Werte nötig. Da laufen diese rote Fäden zusammen. Putin und sein Regime vermitteln die ganze Zeit sehr deutlich, dass er den Westen und dessen Werte ablehnt. Seine Werte zeigen sich in der Ukraine: Gewalt, Traditionalismus, Hass auf alles, was anders tickt, gegen Feminismus, gegen LGBT, alles, was nicht in diesen nationalistisch-traditionalistischen Rahmen passt. Das wird jetzt angegriffen, aus der Gesellschaft rausgeschmissen und verfolgt. Antisemitismus gehört auch dazu. Man muss immer schauen, wie weit man da geht und gegen welche Gebote man verstößt.

Frings: Die positiven Werte, die Sie ansprechen, werden insbesondere von der Europäischen Union repräsentiert. Wir werden Anfang Juni, eine Woche nach dem Katholikentag, ein neues Parlament wählen. Es ist zu befürchten, dass die radikalen Ränder, insbesondere der Rechtsradikalismus, massive Gewinne verzeichnen werden. Beunruhigt Sie das als Historikerin, was gerade hier in Europa passiert?

Irina Scherbakowa

"Putin und der Rechtspopulismus bieten ganz einfache Antworten an. Dagegen muss man alles tun, was man tun kann."

Scherbakowa: Ja, die ganze Situation ist unglaublich. Wir sind für die europäische Zukunft wirklich an einem sehr kritischen Punkt. Es ist auch für meine Generation unvorstellbar, dass man über die Atomwaffen-Anwendung überhaupt diskutiert. Und dass das Wort "Frieden" in Russland eigentlich verboten worden ist. Die übliche Parole am ersten Mai "Frieden, Arbeit, Mai" ist weggefegt worden ist. Das ist unglaublich.

Und Putin hat noch sehr viel Kraft, um diesen Krieg zu führen. Wir sehen eine Destabilisierung. Ich glaube, dass Putin auch eine ganz wichtige Figur für die Rechtsradikalen ist, weil er für sie wie der starke Mann im Hintergrund wirkt.

Für unsere Generation der 1960er und 1970er Jahre war es von Bedeutung, dass der Mensch ein kompliziertes Wesen ist, dass das Individuum zählt, dass es keine einfache Antworten auf schwierige Fragen gibt. Aber Demokratie ist eine schwierige Geschichte. Erstens muss man um sie kämpfen. Und zweitens, was bedeutet Meinungsfreiheit? Das ist eine ganz schwere und komplizierte Sache. Putin und der Rechtspopulismus bieten ganz einfache Antworten an. Dagegen muss man alles tun, was man tun kann. 

Quelle:
ZdK