Franziskus veröffentlicht nach elf Amtsjahren Autobiografie

"In allen von uns schlagen zwei Herzen"

Der Papst hat zum Jahrestag seiner Amtseinführung seine Biografie veröffentlicht. Auf rund 270 Seiten schreibt er zusammen mit einem Journalisten die "Geschichte in der Geschichte". Jesuitenpater Andreas Batlogg hat das Buch gelesen.

Papst Franziskus ist gut gelaunt / © Lola Gomez/CNS photo (KNA)
Papst Franziskus ist gut gelaunt / © Lola Gomez/CNS photo ( KNA )

DOMRADIO.DE: Ein Papst schreibt eine Autobiografie. Von Benedikt XVI. kennen wir biografische Bücher wie zum Beispiel "Aus meinem Leben" oder die Interviewbücher mit Peter Seewald. Ist eine Autobiografie, an der der Papst selbst mitschreibt, dennoch etwas Außergewöhnliches?

Andreas R. Batlogg (privat)
Andreas R. Batlogg / ( privat )

Pater Andreas R. Batlogg SJ (Jesuit, Theologe und Publizist): Aus meiner Sicht nicht. Es gibt einfach ein vernünftiges Interesse an den Fragen, wie jemand Papst geworden ist oder warum er solche oder solche Themen wählt.

Es ist spannend zu sehen, wie Jorge Mario Bergoglio weltgeschichtliche Ereignisse mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft. Er zeigt uns, wo er beispielweise bei der Mondlandung oder bei der Attacke auf das World Trade Center war. 

Wie hat er sich gefühlt bei dieser minimalistischen Andacht auf dem Petersplatz im März 2020? Das finde ich interessant.

 

Polizisten patrouillieren auf dem leeren Petersplatz während der Ostermesse / © Gregorio Borgia (dpa)
Polizisten patrouillieren auf dem leeren Petersplatz während der Ostermesse / © Gregorio Borgia ( dpa )

 

DOMRADIO.DE: Wo war er denn zum Beispiel während der Mondlandung? 

Batlogg: Er stand wenige Monate vor seiner Priesterweihe und hat mit anderen zusammen in Argentinien zugeschaut. Als er noch studierte, gab es dort nur einen Fernsehapparat. Aber er ist zu spät gekommen, weil es ihn nicht so wirklich interessiert hat; bis er gemerkt hat, das es ein historischer Moment ist.

Andreas R. Batlogg

"Krieg ist immer eine Niederlage. Mit Frieden gewinnt man alles."

DOMRADIO.DE: Seit vergangener Woche gibt es bereits einige Stichproben, die unter anderem der "Corriere della Sera", aber auch die Katholische Nachrichten-Agentur veröffentlicht haben. Dabei ging es unter anderem um die Schilderung der Friedensethik des Papstes. Aus den vergangenen Wochen ist die Diskussion um seine umstrittene Äußerung mit der "weißen Fahne" bekannt. Liefert die Biografie eine Erklärung, warum er dieses Bild in dem Interview weiter ausgemalt hat?

Symbolbild Weiße Fahne / © hxdbzxy (shutterstock)

Batlogg: Eigentlich nicht. Das kam danach. Das war aufgelegt: weiße Blumen, weiße Hemden, weiße Fahne. Es ist immer eine Frage, ob es klug ist, so spontan zu reagieren, dass ein Shitstorm daraus entsteht. 

Was er gesagt hat, war nicht Kapitulation, sondern Verhandlungen. Krieg ist immer eine Niederlage. Mit Frieden gewinnt man alles. Er hat viele Dinge im Blick. Es ist leider verunglückt. 

DOMRADIO.DE: Für seine neutrale Haltung gerät Franziskus in mehreren Konflikten in die Kritik. Legt er in dem Buch dar, warum ihm diese Neutralität und auch der Frieden so wichtig ist?

Auf dem Plaza de Mayo wird immer wieder demonstriert. Hier rief der neue Erzbischof von Buenos Aires Argentinien zur Einheit auf. / © Alexander Brüggemann (KNA)
Auf dem Plaza de Mayo wird immer wieder demonstriert. Hier rief der neue Erzbischof von Buenos Aires Argentinien zur Einheit auf. / © Alexander Brüggemann ( KNA )

Batlogg Natürlich. Er kommt aus einem Land, in dem es eine Militärjunta gab. In den 1970er-Jahren war er Provinzial. Er hat mitbekommen, wie tausende Menschen verschwunden sind. 

Er kennt die Großmütter "Abuelas de Plaza de Mayo". Er weiß, was totalitäre Regime bewirken. Er zitiert Pius XI. mit seinen Friedensappellen. 

Er steht mitten in der Geschichte. Erinnern Sie sich doch daran, dass er Kardinal Zuppi nach Kiew, nach Moskau, nach Washington und nach Peking geschickt hat. 

Hinter den Kulissen betreibt er seine persönliche Diplomatie. Das andere ist natürlich der Apparat, der Vatikan. Der wird sicher nicht immer über jede Äußerung des Papstes glücklich sein. Er kann es auch nicht sein.

Andreas R. Batlogg

 "Das heißt hinhören, anders hinhören, neu hinhören."

DOMRADIO.DE: Ein sehr wichtiger Aspekt im Pontifikat von Franziskus ist das Stichwort Synodalität. "Es stimmt, dass der Vatikan die letzte absolute Monarchie in Europa ist", schreibt Franziskus in seinem Buch und beklagt dabei, wie sehr er bei Reformen von konservativen Kräften behindert wird. Gleichzeitig werfen ihm manche Kritiker eine mitunter autoritäre Amtsführung vor. Schlagen zwei Herzen in der Brust des Papstes?

Batlogg: In allen von uns schlagen zwei Herzen. Er redet von der Kurie oder vom Vatikan als einen Käfig, in dem er sich gefangen sieht. Es ist auch ganz interessant zu sehen, dass die Coronapandemie ihn flügellahm gemacht hat. Es war für ihn eine Katastrophe. Er sieht die Bremser im Vatikan.

Papst Franziskus steht am Fenster des Apostolischen Palastes beim Angelus-Gebet, darunter eine Menschenmenge, am 18. Juni 2023, auf dem Petersplatz im Vatikan / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus steht am Fenster des Apostolischen Palastes beim Angelus-Gebet, darunter eine Menschenmenge, am 18. Juni 2023, auf dem Petersplatz im Vatikan / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

Er ist schließlich dafür angetreten und gewählt worden, die Kurie zu reformieren. Aber es gibt beharrende Kräfte. Er sagt ganz charmant an einer Stelle im Buch: Wenn er allen Gerüchten, die über ihn gestreut werden, nachginge, dann müsste er zum Psychologen gehen oder bräuchte einen Psychiater, wenn er im Apostolischen Palast lebt. 

Das eine ist Synodalität. Ich denke, das ist seine große Vision, die ihn auch überleben wird. Das ist sein theologisches Erbe. Das heißt hinhören, anders hinhören, neu hinhören. Auch auf Leute hinhören, wo die Kirche zu wenig hingehört hat zum Beispiel bei Frauen. Das macht er. 

Das andere ist, das räume ich durchaus ein, dass er einen sehr autoritären Zug hat und auch wüten kann. Er trifft offenbar einsame Entscheidungen, die vorher mit niemandem abgesprochen sind. Das ist nicht immer glücklich.

Andreas R. Batlogg

"Ich glaube trotzdem, dass diese Kohabitation in Weiß nicht so gelungen war, wie man meinte."

DOMRADIO.DE: Knapp zehn Jahre des Franziskus-Pontifikats wurden von seinem Amtsvorgänger Benedikt begleitet, der anders als angekündigt nicht im Verborgenen geblieben ist. Nun enthüllt Franziskus, dass es eine gemeinsame Entscheidung beider war, Benedikt weiter am Leben der Kirche aktiv teilhaben zu lassen. Doch der Ratzinger-Papst sei von einigen Leuten für ihre eigenen Zwecke und Ziele instrumentalisiert worden, schreibt Franziskus. Wie schätzen Sie das persönliche Verhältnis von Benedikt und Franziskus ein? 

Batlogg: Ich glaube, es war von Hochachtung und Respekt getragen. Ich glaube trotzdem, dass diese Kohabitation in Weiß nicht so gelungen war, wie man meinte. Das ist eine starke Stelle im Buch, als er sagt, sie wurden von Personen um Benedikt herum instrumentalisiert. Sie wollten die beiden Päpste, den aktiven Papst und den zurückgetretenen, gegeneinander in Stellung bringen. 

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (l.) und Papst Franziskus sitzen einander gegenüber am 23. März 2013 in der Sommerresidenz Castelgandolfo / © Osservatore Romano/Romano Siciliani (KNA)
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (l.) und Papst Franziskus sitzen einander gegenüber am 23. März 2013 in der Sommerresidenz Castelgandolfo / © Osservatore Romano/Romano Siciliani ( KNA )

Ob es so glücklich war, dass ein früherer Privatsekretär des Papstes Benedikt Indiskretionen gestreut hat, was Benedikt zu manchen Äußerungen und Schriften von Franziskus gesagt hat, das ist eine andere Frage. Ich denke, das war indiskret.

Andreas R. Batlogg

"Wir stehen sicher in der Zielgerade dieses Pontifikats."

DOMRADIO.DE: Die Gesundheit von Franziskus schlägt zurzeit einige Kapriolen. Mal geht es ihm besser, dann wieder schlechter. Mit 87 Jahren ist er nicht mehr der Jüngste. An Rücktritt denkt er jedoch noch nicht. Gleichwohl hat er bereits am ersten Tag seines Pontifikats Vorkehrungen getroffen, was passieren soll, wenn er sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Wie dringlich sehen Sie denn diese Angelegenheit im Hinblick auf die immer höhere Lebenserwartung auch bei den Päpsten? 

Batlogg: Da wird schon vorgesorgt. Das sagt er im Buch. Bei jeder Operation sei es möglich, dass er nicht mehr aufwache aus der Narkose oder dass er behindert aufwache. Wenn er jemanden nicht mehr erkennen würde, wenn er vergesslich werden würde, dann wird er vermutlich zurücktreten. Aber er schließt in diesem Buch kategorisch aus, dass er bisher darüber nachgedacht hätte. 

Er lässt aber offen, dass wenn es dazu kommen sollte, er abtreten muss. Der Rollstuhl stört ihn nicht. Er hat einmal gesagt, er regiert mit dem Kopf, nicht mit dem Knie. Böse Zungen sagen sofort, dass er dann den Kopf auch benutzen soll. Das sind diese billigen, bösartigen Polemiken.

Papst Franziskus / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Papst Franziskus / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

Auf der anderen Seite sind 87 Jahre auch 87 Jahre. Er hat Vorerkrankungen. Er hatte schwierige Operationen. Wir stehen sicher in der Zielgeraden dieses Pontifikats. 

Er wünscht sich die zweite Session der Synode im Oktober 2024. Er redet auch vom Heiligen Jahr 2025 mit dem 1.700. Jubiläum des Konzil von Nicäa. Das wünsche ich ihm durchaus. 

Aber man merkt schon, er ist gebrechlich. Wenn er sich vom Rollstuhl erhebt, auf seinen Platz geht und anfängt zu reden, merkt man, dass er einige Minuten braucht, bis er gut atmen kann. Liturgien hat er oft an Kardinäle übertragen, predigt dabei aber. Er ist 87 Jahre alt.

Andreas R. Batlogg

"Ich denke, er wird nach wie vor politisch, aber auch theologisch durchaus unterschätzt."

DOMRADIO.DE: Wenn Sie sich die Autobiografie insgesamt anschauen, welchen Erkenntnisgewinn hat sie bezüglich Papst Franziskus? Lernen wir viele neue Aspekte des Denkens dieses Jesuitenpapstes, das nicht immer leicht nachzuvollziehen ist und teilweise auch widersprüchlich zu sein scheint?

Batlogg: Er sagt schon etliche Dinge über sich, zum Beispiel dass seine Familie aus Italien stammt. Deswegen weiß er, was ein Migrantenschicksal ist. Er hat die Weltwirtschaftskrisen und die Finanzkrisen in Argentinien sehr genau beobachtet und zieht daraus seine Schlüsse bis hinein in Evangelii Gaudium: "Wir müssen den Markt zivilisieren. Diese Wirtschaft tötet." Das hat viele aufgeregt in Evangelii Gaudium.

Gemälde Maria Knotenlöserin / © Christopher Beschnitt (KNA)
Gemälde Maria Knotenlöserin / © Christopher Beschnitt ( KNA )

Er wird nach wie vor politisch, aber auch theologisch durchaus unterschätzt. Er schätzt dieses Bild der Maria Knotenlöserin aus Augsburg. Ich denke, er hat sich in vielen Krisen und auch Personalien als Knotenlöser erwiesen. Er ist ein ganz anderer Typus als Benedikt XVI.

Dieses ganze klerikale Gehabe geht ihm furchtbar auf die Nerven. Aber das hat Bewegung und frischen Wind in die Kirche gebracht bei allen Fehlern, die es gibt, die kann man nicht außer Streit stellen. Er ist aus meiner Sicht ein großer Papst. Er ist theologisch auf Guardini, Henri de Lubac und Yves Congar ausgerichtet. 

Der Vergleich mit Professor Dr. Papst Joseph Ratzinger ist einfach unerleuchtet und ich denke, im Rückblick auf die letzten elf Jahre ist viel passiert. Es ist jetzt möglich, in der Kirche und in der Theologie über Themen zu sprechen, die früher absolut tabuisiert waren.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Romano Guardini

Der Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini (1885-1968) zählt zu den einflussreichsten katholischen Denkern des 20. Jahrhunderts. Als führendes Mitglied der katholischen Jugendbewegung und der Liturgiebewegung bereitete er der kirchlichen Erneuerung vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) den Weg. Als wortmächtiger akademischer Lehrer und Autor prägte er Generationen. Wie nur wenigen gelang ihm der Brückenschlag zwischen moderner Lebenswelt und religiöser Symbolik, zwischen Glauben, Wissenschaft und Kunst.

Romano Guardini, Katholischer Theologe und Religionsphilosoph / © N.N. (KNA)
Romano Guardini, Katholischer Theologe und Religionsphilosoph / © N.N. ( KNA )
Quelle:
DR