Frankreich feiert 800 Jahre Kathedrale von Beauvais

Einst höchster Bau der Welt

In der Picardie, rund 70 Kilometer nördlich von Paris, haben sie die gotische Kathedralbaukunst auf die Spitze getrieben. Über die Spitze hinaus, muss man eigentlich sagen. Denn die Kirche ist ein riesiger Torso geblieben.

Kathedrale von Beauvais / © Nowak Lukasz (shutterstock)
Kathedrale von Beauvais / © Nowak Lukasz ( shutterstock )

Die Pläne waren buchstäblich hochfliegend - höchstfliegend. Bischof Milon de Nanteuil wollte im nordfranzösischen Beauvais die größte Kathedrale der Welt bauen lassen - größer vor allem als jene der Nachbarn Amiens und Rouen. Von diesem Plan ließen sie in Beauvais nicht mehr ab. Gotisches Bauen wurde in jenen Jahren mehr und mehr zur Gier nach dem absoluten Maximum; Himmelstreben bis zum Gehtnichtmehr.

1225, vor 800 Jahren, wurde der Grundstein gelegt. Am Donnerstag (6. Februar) wird nun mit einem literarischen Mittelalter-Forum das große Festjahr in der 56.000-Einwohner-Stadt eingeläutet.

Die gotische Architektur zielt auf absolute Transparenz. Von Licht durchflutet soll der Raum sein, den Blick und die Gedanken emporziehen, die Wände geradezu auflösen. Für die komplizierte Statik, die es dafür braucht, müssen Außenstreben sorgen, um die enormen Auflasten des Gewölbes seitlich abzuleiten.

Genius überschätzt

Doch in Beauvais reichte die Stabilität nicht; die Baumeister hatten ihren Genius überschätzt. In der verhängnisvollen Nacht des 29. November 1284 riss ein furchtbarer Knall die Bürger aus dem Schlaf. Teile des atemberaubenden Chorgewölbes stürzten ein. Der - statisch verbesserte - Wiederaufbau dauerte länger als der eigentliche Bau zuvor. Danach sorgte der Hundertjährige Krieg (1337-1453) für eine Pause von eineinhalb Jahrhunderten. Doch am Ende haben sie es doch geschafft: 1569 war die Kathedrale von Beauvais mit 153 Metern Höhe das höchste Gebäude der Welt.

Die Zeit der gotischen Kathedralen war da eigentlich längst vorbei; die von Orleans war 1568, im Vorjahr, in den Religionskriegen von Hugenotten gesprengt worden. Doch in Beauvais rafften sie sich noch ein letztes Mal zu einer vermessenen Höchstleistung auf: Nachdem sie das Chorgewölbe bis zur unfassbaren Höhe von 48 Metern getrieben und das Querschiff mit seinen Portalen angefügt hatten, setzten sie - als geplante Zwischenstation zum Weiterbau - einen riesigen Vierungsturm auf.

Kühne Statik

Dass das ohne ein stützendes Langhaus statisch äußerst kühn war, muss den Erbauern klar gewesen sein. Immerhin wählten sie aus einem Entwurf komplett aus Stein und einem mit steinernem Unterbau und Aufbau aus Holz die leichtere Variante aus. 1569 war der Turm fertiggestellt - mit 153 Metern höher als jedes Gebäude sonstwo auf der Welt. Historische Berichte, die Olavskirche im baltischen Reval (heute Olaikirche in Tallinn) sei damals 159 Meter hoch gewesen, beruhen wohl auf einem Rechenfehler. Sie wird nicht viel mehr als 120 Meter erreicht haben - immerhin.

Hatten sich die die Baumeister von Beauvais tatsächlich über die Gesetze der Statik hinwegsetzen können? Hatten sie es tatsächlich der ganzen Welt gezeigt? Schon einmal war es ja schiefgegangen. Das sollte diesmal nicht passieren. Doch die Winde, die vom Meer über die Ebene rollten, zerrten an der gewagten Konstruktion. Und obwohl noch wenige Wochen zuvor eine zusätzliche Stützkonstruktion für den Vierungsturm fertiggestellt worden war, geschah, was geschehen musste: Das Wunder von Beauvais währte nur wenige Sommer.

An Christi Himmelfahrt 1573, die Gemeinde hatte die Kirche soeben in Prozession verlassen, gaben zwei der Stützpfeiler nach. Der Holzturm bretterte buchstäblich auf Chorgewölbe und Querhaus hinunter. Die einstürzenden Gewölbe und die Glocken zermalmten den gerade vollendeten Lettner.

Todesmut für Freiheit

Die Überlieferung berichtet, dass ein zum Tod am Galgen Verurteilter die wackeligen Trümmerreste vom Dach hinunterstoßen musste - um sich damit Leben und Freiheit zu verdienen. Die Beseitigung der Schäden fraß bis 1578 sämtliche Mittel auf, die eigentlich zum Weiterbau am Langhaus hätten verwandt werden sollen. So wirkt der heutige Torso wie ein mittelalterlicher Turmbau zu Babel: Chor und Querhaus, multipel verankert und gesichert gegen eine dritte Katastrophe, stehen für das Maximum, das die gotische Kathedrale rein statisch erreichen konnte.

Und statt des Langhauses und der Westtürme - Gott weiß, wie hoch sie wohl hätten werden sollen - hockt dort demütig und scheinbar winzig bis heute der karolingische Vorgängerbau aus dem 10. Jahrhundert, in dem noch Steine aus der Römerzeit verbaut sind. Auch dieses vermeintlich hutzelige Häuschen ist ein Gotteshaus. Auch hier wurde über Jahrhunderte die Messe gefeiert, während nebenan das größte Gebäude der Welt entstand.

Und so kann die Stadt Beauvais 2025 ein (eigentlich mehr als) 800-jähriges Bestehen seiner Bischofskirche feiern. Den Auftakt macht das traditionelle Winter-Lichterfest (Festival Lumières d'hiver) in der Mediathek der Stadt. Dort wird es um Literatur des Mittelalters und über das Mittelalter gehen. Im Frühjahr und Sommer dann wird das Bauwerk selbst in den Vordergrund rücken.

Kirche in Frankreich

Die katholische Kirche in Frankreich zählt zu den traditionsreichsten und geistesgeschichtlich wichtigsten in Europa. Marksteine ihrer reichen Geschichte sind etwa für das christliche Mittelalter die Taufe von Frankenkönig Chlodwig, die Reichskirche Karls des Großen ("Charlemagne"), die großen Ordensbewegungen und das "Zeitalter der Kathedralen"; weiter die Religionskriege des 16./17. Jahrhunderts, die nationalkirchliche Strömung des "Gallikanismus", die Aufklärung und die Französische Revolution. Zu Frankreichs Kulturerbe gehören ungezählte Klöster und Kathedralen von Weltrang.

Französische Fahne / © Rick Hawkins (shutterstock)
Quelle:
KNA