DOMRADIO.DE: Was hat Sie persönlich dazu bewegt, Seelsorge auf Festivals anzubieten?
Julia Hahn (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin sowie ehrenamtliche Festivalseelsorgerin): Ich selber gehe schon seit ungefähr zehn Jahren gerne auf Festivals. Ich kann dem sehr viel abgewinnen, weil Musik für mich eine Leidenschaft ist. Es hat für mich viel mit Emotionen und auch mit meiner eigenen Spiritualität zu tun.
Andererseits halte ich Seelsorge für ein wichtiges Feld in der pastoralen Praxis. Vor zwei oder drei Jahren habe ich das erste Mal von Festivalseelsorge gehört und dachte, dass das cool klingt. Ich wusste gar nicht, dass es das gibt.
Ich habe mich dann mehr damit beschäftigt. Ich bin mit Leuten in Kontakt gekommen und habe die gefragt, was es damit auf sich hat. So bin ich in dieses Feld eingestiegen. Dann hat sich beides zusammen ergeben, sodass ich sowohl darüber jetzt meine Doktorarbeit schreibe und selber in dem Feld tätig bin.
DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie die Atmosphäre auf Festivals im Hinblick auf Spiritualität und menschliche Begegnung?
Hahn: Menschliche Begegnung geschieht auf Festivals dauerhaft. Man ist von Zehntausenden von Menschen umgeben. Da entsteht sehr schnell, spontan und temporär eine Gemeinschaft mit den Leuten, mit denen man campt, wenn man die nicht vorher sowieso schon kannte. Das passiert auch beim Tanzen, gemeinsamen Feiern und der gegenseitigen Unterstützung.
Über die Spiritualität der Besucher*innen kann ich aber nur bedingt etwas sagen. Ich würde aber durch meine eigene Erfahrung oder das, was ich beobachte, sagen, dass durch die Musik vielfach Spiritualität aufkommt. Durch das gemeinschaftliche Tanzen kommt man auch in eine andere Sphäre. Wenn man es theologisch deuten möchte, kann man so eine Transendenz-Erfahrung machen.
Wir als Festivalseelsorger*innen beobachten immer wieder, dass auch der Bedarf an Ritualen auf Festivals vorhanden ist, dass Menschen auf dem Gelände selbst organisiert einen Gottesdienst veranstaltet haben. Nicht klassisch, wie wir das aus der Kirche kennen, sondern mit allem, was sie auf dem Festival gefunden haben. Dabei wird zum Beispiel ein Kreuz aus Bierdosen gebastelt.
DOMRADIO.DE: Mit welchen Anliegen oder Nöten kommen die Menschen auf den Festivals am häufigsten zu Ihnen?
Hahn: Das ist eine breite Themenvielfalt. Ich versuche das immer so zu kategorisieren. Einerseits gibt es Dinge, die die Menschen schon von zu Hause mitbringen. Denn Festivals sind ein Ausbruch aus dem Alltag. Doch man kann den Alltag nicht komplett negieren oder wegschließen.
Das heißt, Menschen bringen das mit, was ihnen Zuhause schon auf der Seele oder auf dem Herzen lag. Das können auch existenzielle Fragen nach dem Sinn des Lebens sein oder wie es im nächsten Lebensabschnitt weitergeht.
Viele junge Menschen, die gerade ihren Schulabschluss gemacht haben, nutzen den Sommer, um auf Festivals zu gehen. Die machen sich Gedanken, wie es weitergeht in ihrem Leben.
Es können aber auch psychische Herausforderungen sein, die Menschen mitbringen. Dazu gehören Trauer um einen Menschen, Gedanken über Krankheiten, Konflikte im Beruf oder der eigene Glaube, die eigene Spiritualität.
Auf der anderen Seite gibt es Dinge, die vor Ort passieren oder die, die Menschen dort erleben. Es kann sein, dass es zu Konflikten mit den Menschen kommt, mit denen man zusammen campt oder auch mit anderen Menschen, die man dort kennenlernt hat. Oder es gibt Beziehungsprobleme mit dem Partner oder der Partnerin.
Es kann auch einer Überforderung oder eine Reizüberflutung sein, die durch das Festival ausgelöst werden können. Das waren vor allem negative Dinge. Gleichzeitig ist uns sehr wichtig, dass wir keine problemzentrierte Seelsorge machen wollen.
Unsere Besucher*innen können genauso gut zu uns kommen, wenn sie etwas Freudiges erzählen wollen. Ich denke da an das Konzilsdokument "Gaudium et spes". Sowohl die Freude und die Hoffnung als auch die Trauer und die Angst dürfen da sein oder sind da bei den Menschen.
Das Interview führte Annika Weiler.