Religionssoziologe erklärt schwindende Kirchenbindung in Italien

Fällt Italien vom Glauben ab?

Das Vertrauen der Italiener in die Kirche nimmt nach einer aktuellen Studie rapide ab. Der Religionssoziologe Detlef Pollack macht nicht nur den Missbrauchsskandal dafür verantwortlich, sondern auch Veränderungen in der italienischen Gesellschaft.

Eine Nonne in Italien / © Marco Iacobucci Epp (shutterstock)
Eine Nonne in Italien / © Marco Iacobucci Epp ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Was macht den Glauben der Italiener eigentlich aus?

Detlef Pollack (Professor für Religionssoziologie an der Universität Münster): Die Kirchenzugehörigkeit, der Glaube ist in Italien eigentlich etwas Selbstverständliches gewesen. Die Kirche war eigentlich in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingebunden. In die Politik zum Beispiel, aber genauso gut konnte man Ordensleute, Ordensfrauen, Priester im alltäglichen Straßenbild sehen. In den Familien spielte der Glaube eine große Rolle. Man kann sagen, dass eigentlich das gesamte alltägliche, aber auch öffentliche Leben von Glaube und Kirche durchdrungen war. Insofern war es ganz selbstverständlich, dass man zur Kirche gehalten hat.

Bis in die 1990er Jahre waren über 90 Prozent der Italienerinnen und Italiener Kirchenmitglieder. Das hat sich in den letzten Jahren verändert. Aber auch nicht so stark, wie man das jetzt vielleicht in einigen öffentlichen Verlautbarungen hören kann. Von 90 Prozent ist der Anteil der Kirchenmitglieder auf 74 Prozent zurückgegangen, also noch immer gehört eine deutliche Mehrheit zur Kirche.

DOMRADIO.DE: Zwei Drittel der praktizierenden Gläubigen sehen die Kirche jetzt in einer Krise. Was sind denn Ihrer Meinung nach die Gründe, die die Italiener aus Ihrer Kirche treiben?

Pollack: Es gibt kurzfristige und langfristige Gründe. Bei den kurzfristigen, würde ich sagen, spielen die Missbrauchsfälle eine zentrale Rolle. Die werden ja weltweit in der katholischen Kirche diskutiert, eben auch in Italien.

Bei den langfristigen, da würde ich vor allen Dingen auf zwei Faktoren hinweisen. Einmal die Veränderung der Familienstruktur. Die Frauen sind immer mehr ins Erwerbsleben eingedrungen. Traditionell war die Erwerbstätigkeit der Frauen in Italien deutlich unter dem europäischen Durchschnitt. Das ist immer noch der Fall. Aber inzwischen gehen doch weitaus mehr Frauen zur Arbeit. Und das hat Konsequenzen für den Zusammenhalt der Familie. Viele Frauen sind auch sehr aufstiegsorientiert, sodass auch Probleme der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auftreten. Das hat die Konsequenz, dass die Scheidungsrate in Italien sehr hoch ist, eine der höchsten in Europa, auch höher als in Deutschland.

Mit anderen Worten: Es war früher eigentlich selbstverständlich, dass die Frauen für die Kindererziehung verantwortlich waren und eben auch Religion und Glaube mit transportiert haben. Das ist heute nicht mehr so selbstverständlich.

Der andere Punkt besteht darin, dass sich die öffentliche Kultur verändert hat. Früher waren die öffentlichen Debatten von katholischen Argumenten durchdrungen. Inzwischen gibt es zwar nach wie vor auch einen starken Bezug auf katholische Argumente, aber das Feld derjenigen, die vom katholischen Glauben her argumentieren, ist fragmentiert. Wir haben da Populisten wie Salvini auf der einen Seite, aber auch mehr liberale Katholiken. Das heißt, dass die Menschen, die die Kirche vertreten, nicht mehr mit einer Stimme sprechen.

DOMRADIO.DE: Gehen die Italiener denn einfach nicht mehr nur in die Kirche oder treten sie aus, so wie in Deutschland?

Pollack: Man kann austreten, ja, aber wenn man sich die Zahlen anschaut, bleiben die Leute weg. Aber es ist nicht so wie in Deutschland, dass man seinen Kirchenaustritt formell erklären muss. Es gibt dort eine sogenannte Mandatsteuer oder Kultussteuer. Die muss jeder entrichten. Und man kann dann entscheiden, ob das Geld - 0,8 Prozent des Steueraufkommens - an die Kirche geht oder an andere soziale Einrichtungen. Immer weniger geben das Geld an die Kirche. Das ist die Art der Italiener, aus der Kirche auszutreten. Das ist oft nicht formell erklärt, aber man gibt einfach weniger Geld an die Kirchen.

DOMRADIO.DE: Aber auf der anderen Seite laufen die Rechtspopulisten in Italien, die gerne auf religiöse Symbole setzen, damit ins Leere. Das ist doch eine gute Nachricht, oder?

Pollack: Ich würde sagen, das ist nicht unbedingt eine gute Nachricht, weil die Rechtspopulisten ja die religiösen Symbole missbrauchen. Viele, denen der Glaube etwas bedeutet, haben das Gefühl, dass auf diese Weise der Glaube instrumentalisiert wird. Das führt dann dazu, dass eben auch innerhalb des katholischen Lagers die Polarisierungen zunehmen und viele Katholiken sich in den Populisten auch nicht wiedererkennen können.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Religionswissenschaftler Detlef Pollack / © Brigitte Heeke (epd)
Religionswissenschaftler Detlef Pollack / © Brigitte Heeke ( epd )
Quelle:
DR