DOMRADIO.DE: Aktuell trifft Litauen als EU- und Nato-Land Vorkehrungen für eine mögliche Invasion durch Russland. Ihre Regierung arbeitet an einem landesweiten Evakuierungsplan. Wie beunruhigt sind Sie?
Erzbischof Gintaras Grušas (Erzbischof von Vilnius und Vorsitzender des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen /CCEE): Ich würde sagen, ich bin besorgt, aber noch nicht beunruhigt. Wir kennen unseren Nachbarn seit Jahrhunderten und wir wissen, dass die Beziehungen problematisch werden können. Deswegen glaube ich, dass man gut vorbereitet sein muss.
Unsere Regierung arbeitet seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine an einem Plan, wie im Ernstfall die Zivilbevölkerung geschützt werden kann. Das ist Teil unserer Realität in Litauen.
DOMRADIO.DE: Nirgendwo ist die Bedrohung durch Russland so real wie in den baltischen Staaten. Wie geht die Bevölkerung in Ihrem Land damit um?
Grušas: Erst 1990 wurde die jahrzehntelange russische Besatzung bei uns beendet, die Situation ist also nicht vollkommen neu für uns. Wir würden den Konflikt zwar gerne vermeiden, aber es ist eine Sache, gut vorbereitet zu sein und die andere ist unsere NATO-Mitgliedschaft und die Unterstützung durch unsere Partner, wie etwa die USA oder Deutschland, das jetzt Bataillone bei uns stationiert hat. Das ist ein wichtiges Signal und gibt uns ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
DOMRADIO.DE: In Deutschland herrscht Uneinigkeit darüber, ob man der Ukraine Waffen zur Verteidigung schicken oder auf Diplomatie und Verhandlungen mit Russland setzen sollte. Wie sehen Sie das?
Grušas: Man sollte immer auf Diplomatie und Verhandlungen zurückgreifen, ohne geht es nicht. Aber wenn der Nachbar in Not ist und friert, sagen Sie auch nicht – so wie es in der Bibel steht: "Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!", sondern Sie geben ihm einen Mantel. Die Ukraine wird bombardiert und es scheint manchmal aus dem Blickfeld zu geraten, wer der Aggressor ist.
Und es wird oft vergessen, dass die Ukraine sich in einem Abkommen verpflichtet hatte, seine Atomwaffen abzugeben. Leider war Russland der Verhandlungspartner. Aber die USA und Großbritannien versprachen der Ukraine damals, ihre Souveränität zu schützen. Dieses Versprechen müssen sie halten.
DOMRADIO.DE: Aber widerspricht das nicht der christlichen Friedensethik und dem unbedingten Willen, Krieg zu vermeiden, so wie es Papst Franziskus immer wieder gefordert hat und wofür er auch immer wieder kritisiert wurde?
Grušas: Jeder, der die russische Mentalität kennt – und in Litauen kennen wir sie nach fast 50 Jahren Besatzung ziemlich gut und versuchen es dem Westen auch immer wieder zu verdeutlichen –, weiß: Die Russen werden nicht von selbst aufhören, sie müssen gestoppt werden.
Das war im Zweiten Weltkrieg so, in Armenien, in Georgien und jetzt in der Ukraine. Die Expansionsbestrebungen werden nicht aufhören. Das sagen nicht nur politische Beobachter, sondern auch die russische Propaganda selbst.
Deswegen haben wir das Recht, besorgt zu sein. Denn solange die Aggression nicht gestoppt wird, werden Menschen sterben.
DOMRADIO.DE: In Rom treffen sich im Oktober über 300 Delegierte der Weltsynode. Sie werden dort den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen vertreten. Für welche Botschaft möchten Sie da werben?
Grušas: Ich habe keine Botschaft und ich glaube, das ist ein Denkfehler bei einigen Teilnehmenden, weil sie mit einer Agenda kommen. Für das Treffen im Oktober hat der Heilige Vater die kontroversen Themen von der Tagesordnung genommen, sodass wir uns jetzt auf die Synodalität konzentrieren können, wie wir als Kirche leben und handeln wollen und wie wir wieder lernen, einander und dem Heiligen Geist zuzuhören.
Denn darum geht es ja bei der Weltsynode. Es geht nicht darum, wer sich mit seinen Anliegen durchsetzt, sondern darum, die Haltung der Kirche zu ändern und zuzuhören.
DOMRADIO.DE: In Rom hat man immer misstrauisch auf den Synodalen Weg in Deutschland geblickt. Ein Argument der Kritiker war, dass die Deutschen mit ihren Reformbemühungen die Spaltung der Weltkirche vorantreiben. Wie sehen Sie das?
Grušas: Es gab bereits verschiedene Synoden, die italienische oder die irische, von daher ist die deutsche nur eine von vielen. Der Synodale Weg in Deutschland hat seinen besonderen Kontext, aber mir scheint, dass er vielmehr auf eine parlamentarische Arbeitsweise abzielt, wo Gruppen in Abstimmungen versuchen ihre Anliegen durchzusetzen.
Aber ich glaube, bei der Synode im Kontext der Weltkirche geht es mehr darum, zuzuhören und zu verstehen, als um Abstimmungen und Interessenvertretung. Ich hoffe, dass sich das in der Zukunft ändern wird.
DOMRADIO.DE: Sollten die Deutschen also wieder lernen zuzuhören und zu verstehen?
Grušas: Wir müssen alle wieder lernen zuzuhören. Das lehrt uns die Synode in Rom. Es geht nicht darum, Regeln und Vorschriften aufzustellen, sondern es geht darum, dass wir als Kirche einander zuhören und versuchen zu verstehen, auch wenn wir aus unterschiedlichen Kontexten kommen.
Ich habe keine Zweifel daran, dass die Situation der Kirche in Deutschland außergewöhnlich ist, aber wir sind – bei aller Unterschiedlichkeit – alle Teil der Weltkirche. Unser Fundament ist das gleiche und das muss es auch bleiben, sonst bekommen wir ernsthafte Probleme.
DOMRADIO.DE: Sie nehmen aktuell an der internationalen Renovabis-Konferenz in Freising teil, bei der es um den Umgang mit Säkularisierung und religiöser Indifferenz in Europa geht. In Litauen scheint diese Entwicklung nicht so virulent zu sein, immer noch bekennen sich noch rund 80 Prozent zum Katholizismus. Das sind Zahlen, die in kaum einem europäischen Land noch erreicht werden. Woran liegt das?
Grušas: Die Herausforderung ist grenzübergreifend und die Antwort steckt im Titel der Konferenz: Glaubwürdig Zeugnis geben. Das gilt umso mehr für säkularisierte Gesellschaften. Wenn wir das Evangelium leben und mit anderen teilen wollen, müssen wir glaubwürdige Zeugen sein. Dass bei uns 80 Prozent der Bevölkerung getauft sind, heißt nicht, dass alle ihren Glauben praktizieren.
Von daher sind auch wir in Litauen von diesen Entwicklungen betroffen und wir müssen achtgeben, dass wir nicht nur Traditionen aufrechterhalten, so wie es in einigen osteuropäischen Ländern passiert. Der Glaube muss in der Gegenwart ankommen, gelebt und in die Familien und Gesellschaften getragen werden. Dann haben wir Menschen, die glaubwürdig Zeugnis ablegen, egal ob sie in einer religiösen oder einer säkularen Gesellschaft leben.
Das Interview führte Ina Rottscheidt.