Eine theologische Betrachtung zum Passionssonntag

Neu sehen lernen

Womit man sich ständig umgibt, das wird irgendwann alltäglich. Wie lässt sich vermeiden, dass es gläubigen Menschen mit kirchlichen Symbolen so geht, vor allem mit dem Kreuz? Die Fastenzeit gibt Antworten.

Autor/in:
Fabian Brand
Symbole der Karwoche: Palmzweige, Ölgefäße, Taufschale / © Corinne Simon (KNA)
Symbole der Karwoche: Palmzweige, Ölgefäße, Taufschale / © Corinne Simon ( KNA )

Man kann sich mit einer bestimmten Speise satt essen, so viel davon essen, dass man nicht mehr kann. Es kann auch vorkommen, dass man ein Gericht über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht mehr essen mag, weil man einmal zu viel davon abbekommen hat. Aber man kann sich auch an etwas satt sehen: Es gibt Dinge, die hat man jeden Tag vor Augen, dass man sie irgendwann überhaupt gar nicht mehr richtig wahrnimmt.

Sich satt sehen

So geht es zum Beispiel Menschen, die neben berühmten Bauwerken oder Sehenswürdigkeiten wohnen. Für sie es selbstverständlich, jeden Tag beim Blick aus dem Fenster diesen Bau zu sehen. Und manche können dann gar nicht mehr verstehen, warum Menschen aus fernen Städten und Ländern kommen, um diese Gebäude zu besichtigen. Je länger man Dinge unmittelbar vor der eigenen Nase hat, umso weniger weiß man sie zu wertschätzen.

Palmsonntag 2022

Der Palmsonntag ist der erste Tag der Karwoche und erinnert an den Einzug Jesu in Jerusalem. Der Evangelist Matthäus schreibt über den Ritt Jesu auf einem Esel vom Ölberg hinunter in die

Stadt: "Viele Menschen breiteten auf dem Weg ihre Kleider aus, andere schnitten Zweige von den Bäumen und streuten sie auf die Straße."

Das Vortragekreuz am Palmsonntag, mit Buchs und roten Blüten geschmückt. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Das Vortragekreuz am Palmsonntag, mit Buchs und roten Blüten geschmückt. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Nimmt man das Kreuz noch wahr?

So kann es auch mit Dingen gehen, die wir in unseren Kirchen beinahe alltäglich sehen: prunkvoll gestaltete Altäre, goldglänzende Heiligenfiguren und überall Kreuze. Wer öfters eine Kirche zum Gottesdienst besucht, wird all das schon bald nicht mehr wahrnehmen. Und dennoch ist es wichtig, dass wir uns gerade am Kreuz nicht sattsehen. "Ave crux, spes unica - Sei gegrüßt, o heiliges Kreuz, du unsere einzige Hoffnung", heißt es in einem Hymnus der Karwoche. Doch wie ernst ist es uns wirklich mit dem Kreuz? Nehmen wir es überhaupt noch wahr?

Brauchtum am Passionssonntag

In vielen Kirchen wird am fünften Fastensonntag, der auch den Namen Passionssonntag trägt, ein uraltes Brauchtum geübt: An diesem Sonntag werden die Kreuze in den Kirchen mit Tüchern verhüllt. Mancherorts geschieht das mit den Altären bereits am Aschermittwoch; sie mit einem großen Tuch, dem sogenannten Fastentuch verhüllt. Beide Traditionen haben denselben Grund: Es geht darum, unsere Wahrnehmung zu schärfen.

Bewusst sehen und hören

Die beiden Wochen vor dem Osterfest sind eine Einladung, wieder bewusst zu sehen und bewusst zu hören. Viele Gottesdienste sind in dieser Zeit schlicht gestaltet: Das Orgelspiel ist reduziert, in der gesamten Fastenzeit wird auf den Blumenschmuck verzichtet, die Liturgie besitzt eine eigenartige Strenge. Ein ums andere Mal geht es um dasselbe: Wir sollen die Riten, die wir vollziehen, die Gottesdienste, die wir feiern, bewusster erleben und wahrnehmen.

Mit anderen Worten: Manchmal sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht, weil wir uns so an einen Anblick oder einen Ablauf gewöhnt haben. Es ist doch ganz normal, dass Kreuze in unseren Kirchen hängen. Der Anblick des Gekreuzigten gehört für viele Menschen zum Alltag dazu.

Auf Geheimnis des Glaubens konzentrieren

Diese Passionszeit lädt uns ein, dass wir uns neu auf das Geheimnis des Glaubens konzentrieren. Das Kreuz ist nicht irgendein beliebiger Gegenstand. Es ist das Zeichen unserer Erlösung. Und so beten wir auch in den Kartagen: "Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung". Mit dem Kreuz beginnt die Gewissheit zu wachsen, dass wir nicht im Tod bleiben, sondern dass Christus uns Anteil schenkt an seinem österlichen Leben. Im Zeichen des Kreuzes beginnen wir unsere Gottesdienste, mit dem Kreuzzeichen segnen wir uns und andere, unter das Kreuz stellen wir unser ganzes Leben.

Am Passionssonntag hören wir das Evangelium von Jesus und der Ehebrecherin aus dem Johannesevangelium. Die Menschen, die sie steinigen wollen, sehen nur das Oberflächliche. Jesus aber erkennt das Wesentliche: Im Umgang miteinander darf man nicht nach dem Augenschein urteilen, sondern man muss lernen, den Menschen wirklich wahrzunehmen mit all dem, was ihn bewegt. Denn auch an Menschen kann man sich sattsehen.

Neu sehen lernen

Der fünfte Fastensonntag lädt uns ein, neu sehen zu lernen: Christus, den Gekreuzigten, der durch seinen Tod die Welt erlöst hat und der uns die Hoffnung schenkt, dass auch wir im Tod zum Leben auferstehen. Aber auch unsere Mitmenschen, mit denen zusammen wir die Schöpfung gestalten. Und ihre Fehler und Schwächen, die selten größer sind als unser eigenes Versagen.

Quelle:
KNA