Eine Rezension zu Georg Gänsweins "Nichts als die Wahrheit"

Lohnt sich das vatikanische "Skandalbuch"?

Kaum ein katholisches Buch wurde vorab so heiß diskutiert wie die Erinnerungen des Privatsekretärs von Benedikt XVI. "Nichts als die Wahrheit" hat es direkt auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Eine Buchrezension.

Autor/in:
Renardo Schlegelmilch
Erzbischof Georg Gänswein / © Michael Kappeler (dpa)
Erzbischof Georg Gänswein / © Michael Kappeler ( dpa )
"Nichts als die Wahrheit" von Georg Gänswein / © Jan Hendrik Stens (DR)
"Nichts als die Wahrheit" von Georg Gänswein / © Jan Hendrik Stens ( DR )

Es ist nicht das erste Enthüllungsbuch, das den Titel "Nichts als die Wahrheit" trägt. Schon 2002 hatte der Musikproduzent Dieter Bohlen unter diesem Titel seine schmutzige Wäsche gewaschen. Wer ähnlich pikante Enthüllungen aus dem Vatikan erwartet, der wird enttäuscht – zumindest zum größten Teil. Wenn Erzbischof Gänswein allerdings gegen Ende des Buches die Darmfunktion des emeritierten Papstes kommentiert ("Er hatte keine Probleme") fragt man sich doch ein wenig, ob so etwas nicht eher ins Bohlen-Buch gepasst hätte.

Drei Teile - einen kann man überspringen

Gänsweins Buch besteht aus drei Teilen. Ein Drittel – und das ist der interessante Part – besteht aus Blicken hinter die Kulissen des Apostolischen Palastes. Wieso hatte Joseph Ratzinger am Tag seiner Papstwahl einen schwarzen Pullover an? Wie war das Miteinander im päpstlichen Haushalt? Wer hat wo welche Fäden gezogen? Gänswein lässt zum Beispiel kein gutes Haar an einer ehemaligen Haushälterin, die im päpstlichen Haushalt lebte und seiner Meinung nach Benedikt XVI. zu sehr herumkommandiert hat. Sie soll sogar den Architekten und Bauarbeitern zu Benedikts Amtsantritt aufgetragen haben, Arbeitszimmer und Schlafzimmer der Papstwohnung auszutauschen. Solche subjektiven Einblicke aus erster Hand sind durchaus spannend, obwohl vieles davon sicher nur Leute interessiert, die sich intensiv mit Kirche und Vatikan auseinandersetzen. Wenn der Autor Andeutungen zu einem deutschen Journalisten macht, der seines Erachtens Fehlinformationen verbreitete, wird sicher den wenigsten klar sein, um wen es dabei geht.

Das zweite Drittel sind Nacherzählungen der theologischen Gedanken und Thesen Joseph Ratzingers, teilweise in seitenlangen Zitaten ("Dieser Propaganda geht es mitnichten um das Wohl der homosexuellen Personen, sondern um eine bewusste Manipulation des Seins und eine radikale Leugnung des Schöpfers"). Klar will Gänswein die Gelegenheit nutzen, um auch die Inhalte und das Wirken des ehemaligen Präfekten und Papstes seinem Publikum nahe zu bringen. Das ist aber den meisten Lesern, die sich für das Thema interessieren, sicher schon zu großen Teilen bekannt. Diese Abschnitte und Kapitel kann man eigentlich problemlos überspringen.

Anbiederung an die Benedikt-Fans?

Kardinal Robert Sarah / © Cristian Gennari (KNA)
Kardinal Robert Sarah / © Cristian Gennari ( KNA )

Der dritte Teil besteht aus Rechtfertigungen seines eigenen Handelns und dem seines ehemaligen Chefs. In einem längeren Abschnitt geht es um den Ärger rund um die Veröffentlichung des Buches von Kardinal Sarah zum Zölibat im Jahr 2020, in dem Benedikt XVI. wohl gegen seinen Willen als Co-Autor genannt wurde. Hier (und an anderen Stellen) sind es entweder Missverständnisse oder bewusste Fehlinterpretationen, so dass Ratzinger/Benedikt nie eine wirkliche Schuld trifft. Überhaupt spielt Gänswein gern jede Kritik herunter, die besonders in den Medien an Benedikt XVI. geäußert wurde. Sein Lieblingswort hier heißt "Polemik". Sicher kein anderes Wort wird in diesem Buch so häufig verwendet. Wenn es um die Reaktionen auf das Münchner Missbrauchsgutachten geht, hat das Team von Benedikt einen kleinen Fehler gemacht, und die Reaktion darauf ist: Polemik, Polemik, Polemik. In den Medien und in der Öffentlichkeit.

Renardo Schlegelmilch

"Man kann den Eindruck bekommen, dass es Erzbischof Gänswein weniger um eine Würdigung von Benedikt XVI. geht als um seine eigene Selbstdarstellung."

Man kann den Eindruck bekommen, dass es Erzbischof Gänswein in diesem Buch weniger um eine Würdigung von Benedikt XVI. geht als um seine eigene Selbstdarstellung. Man munkelt rund um den Vatikan, dass sich Gänswein als neuer Anführer der konservativen Benedikt-Fans in Stellung bringen will. Diesem Eindruck kann man sich bei der Lektüre seines Buches nicht ganz erwehren ("Ohne seine Arbeit als Theologe hätte der 'Dampfkochtopf' seines Intellekts kein Sicherheitsventil besessen und wäre explodiert").

Ein inoffizieller Heiliger?

Zum Teil geht es ihm darum, sich und seine eigene Rolle in einem guten und bedeutenden Licht darzustellen, zum anderen Teil geht es darum, für die Benedikt-Freunde ein möglichst schmeichelhaftes Bild des ehemaligen Papstes abzuliefern. Das geht so weit, dass Georg Gänswein Benedikt XVI. für sich persönlich als einen "Heiligen" bezeichnet, auch wenn er sich dafür ausspricht, ein offizielles Selig- bzw. Heiligsprechungsverfahren erst anzugehen, wenn sich die Fragen rund um die Münchner Missbrauchsaufarbeitung geklärt haben.

Fazit: Das Buch ist lesenswert für die, die sich wirklich für das Klein-Klein des Vatikans und der Kurie interessieren und die Perspektive eines Menschen wollen, der bei allen wichtigen Momenten in der zweiten Reihe dabei war. Man kann allerdings einige Kapitel ohne schlechtes Gewissen überspringen. Und man sollte nicht die großen Enthüllungen erwarten. Die Enthüllungen, die es gibt (Franziskus sagt zu Gänswein: "Erniedrigungen tun gut"), wurden schon vorab ausführlich in den Medien diskutiert. Erschienen ist "Nichts als die Wahrheit" im Herder Verlag, hat 320 Seiten und kostet 28 Euro.

Gänswein-Buch sorgt für Schlagzeilen

Auszüge aus einem Buch von Erzbischof Gänswein haben in italienischen Zeitungen für Schlagzeilen gesorgt. Die römische Tageszeitung "Il Messaggero" berichtete unter der Überschrift "Am Tag der Beerdigung ein Angriff von Georg gegen Bergoglio", dass Gänswein sich in dem Buch nachträglich über seine Beurlaubung durch Papst Franziskus beklage.

Erzbischof Georg Gänswein / © Paul Haring (KNA)
Erzbischof Georg Gänswein / © Paul Haring ( KNA )
Quelle:
DR
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