Eine Kirche als Schlafplatz für Obdachlose

Ein Zuhause für wenige Stunden

In der Obdachlosenseelsorge "Gubbio" in Köln finden Menschen ohne festen Wohnsitz einen Schlafplatz. Ein Ort, an dem sich Wut, Trauer und Zuversicht begegnen. Ein Ortsbesuch am Rand der Gesellschaft.

Autor/in:
Beate Laurenti
Das Gepäck einer Frau liegt auf den Altarstufen bei einem Obdachlosencafe am 11. Januar 2022 in der ehemaligen Franziskanerkirche Sankt Marien in Köln. / © Harald Oppitz (KNA)
Das Gepäck einer Frau liegt auf den Altarstufen bei einem Obdachlosencafe am 11. Januar 2022 in der ehemaligen Franziskanerkirche Sankt Marien in Köln. / © Harald Oppitz ( KNA )

Eine Frau, die nicht sagen möchte, wie alt sie ist, steht vor verschlossenen Türen. Es ist halb acht Uhr abends. In zwei Stunden öffnet die Obdachlosenseelsorge "Gubbio" in Köln ihre Pforten. Immer wieder zieht die Frau ihre Trainingsjacke, unter der sich mehrere Schichten Kleidung andeuten, über ihre dunkelroten Hände. Sie sind zu Fäusten geballt. "Es gibt nur zehn Schlafplätze, da komme ich immer früher", sagt Birgit*. Prüfend blickt sie hinter sich, wo ein Einkaufstrolley und eine kleine Tasche stehen. "Meine Papiere, meine Gesundheitskarte, Klamotten und Brot. Alles, was ich habe, ist da drin."

Gebürtig komme sie aus Essen. Nach dem Tod ihrer Mutter vor zwei Jahren habe sie die Miete nicht mehr zahlen können und die gemeinsame Wohnung nur wenige Monate später verloren. "Ich war wie gelähmt. Mein Vater ist kurz nach meiner Geburt gestorben, da ist die Mutter noch wichtiger." Ihre Augen werden glasig. Seitdem lebe sie auf der Straße. "Ich will nicht, dass meine Bekannten mich so sehen." Daher sei sie nach Köln gekommen - und auch, weil es hier mehr Angebote für Obdachlose gebe.

Seit 2004 hat "Gubbio" - benannt nach dem umbrischen Ort, wo der heilige Franziskus einen Wolf gezähmt haben soll - eigene Räumlichkeiten in einem ehemaligen Franziskanerkloster. Dort, am Südrand der Altstadt, können Bedürftige zwei Mal pro Woche schlafen. Dann ist eine andere der sechs Kölner Gemeinden an der Reihe, die sich an dem Projekt "Nacht-Cafe" beteiligen. Auf diese Weise wird die gesamte Woche abgedeckt, ergänzend zu den Notübernachtungsangeboten der städtischen Wohnungslosenhilfe.

Die ehemalige Franziskanerkirche Sankt Marien in Köln, Treffpunkt der Obdachlosen-Seelsorge Gubbio / © Harald Oppitz (KNA)
Die ehemalige Franziskanerkirche Sankt Marien in Köln, Treffpunkt der Obdachlosen-Seelsorge Gubbio / © Harald Oppitz ( KNA )

Oft fühle sie sich in den Unterkünften nicht wohl, beklagt Birgit. Sie wird wütend, wenn sie von alkoholisierten Männern spricht, die ihr den Schlaf rauben. "Letztes Jahr war ich im Krankenhaus. Da hat man sich um mich gekümmert. Allein das Essen", erzählt sie wie von einem Wellnessaufenthalt. Zwei Wochen sei sie dort wegen Corona behandelt worden. Vor der Pandemie habe sie keine Angst. "Leuten wie mir macht das nichts. Ich habe das Leben satt", sagt sie resigniert, den Blick nach unten gerichtet.

Mittlerweile ist es halb neun. Birgit ist nicht mehr die einzige, die auf Einlass wartet. Eine Fahrradfahrerin in Ordenstracht hält an; es ist Schwester Christina, die gemeinsam mit freiwilligen Helferinnen und Helfern die Nachtschlafstätte vorbereitet.

Die drei S - Schulden, Sucht und Scheidung

Die Franziskanerin arbeitet als Seelsorgerin und Streetworkerin. Seit knapp drei Jahren ist sie bei "Gubbio", kennt die Menschen, die jede Woche kommen, ist Vertrauensperson und Ansprechpartnerin. Es gebe nicht den einen Obdachlosen, sagt sie. Aber meist seien es die "drei S", die das Leben der Menschen aus dem Gleichgewicht bringen: Schulden, Sucht und Scheidung.

Während im Kloster ein paar Studierende Isomatten ausrollen und die Schlafplätze vorbereiten, erhitzen andere in der kleinen Küche Bockwürste. Wenn auch Kaffee und Tee dampfen, dürfen die Menschen ihr Nachtlager beziehen. Sechs Obdachlose haben sich in die Schlange eingereiht. Die Helferinnen und Helfer erfassen ihre Namen und das Viertel der Stadt, in dem sie sich tagsüber aufgehalten haben. "Bahnhof" steht bei den meisten. Um eine Corona-Infektion ausschließen zu können, messen die Studierenden noch die Temperatur. Bei Birgit zeigt das Gerät 34 Grad an.

Stefan Burtscher, Mitarbeiter bei Gubbio, im Gespräch mit einem Gast im Obdachlosencafe in der ehemaligen Franziskanerkirche Sankt Marien in Köln. / © Harald Oppitz (KNA)
Stefan Burtscher, Mitarbeiter bei Gubbio, im Gespräch mit einem Gast im Obdachlosencafe in der ehemaligen Franziskanerkirche Sankt Marien in Köln. / © Harald Oppitz ( KNA )

Zwei Tage zuvor. Ein Glas Apfelsaft, ein Stück Marmorkuchen und eine Tasse Kaffee stehen auf einem kleinen Wagen im "Gubbio" bereit. "Mit Milch und Zucker?", fragt Seelsorger Stephan Burtscher die Obdachlosen, die an diesem Nachmittag gekommen sind. Mit einer blauen Thermoskanne geht der Theologe von Tisch zu Tisch. Ihm ist es wichtig, seine "Gäste" zu bedienen. "Das Erlebnis, wie in einem Restaurant behandelt zu werden, haben sie sonst nicht."

6.000 Wohnungslose in Köln - Corona verschärft die Lage

An diesem Dienstag sind alle rund 20 Tische belegt. In Köln sind laut Stadt rund 6.000 Menschen wohnungslos gemeldet, 300 von ihnen leben auf der Straße. Die Corona-Pandemie habe die Lage verschärft, berichtet Burtscher. "Die Obdachlosen sind auf das Pfandsammeln und Betteln angewiesen." Wenn weniger Menschen draußen unterwegs sind, erschwere das ihre Lage erheblich.

Ein großes Problem in der Domstadt - und in Deutschland überhaupt - sind laut dem Seelsorger auch die fehlenden Hygiene-Einrichtungen. Zudem könnten durch die Corona-Maßnahmen viele Obdachlose nicht mehr in Cafes, um auf die Toilette zu gehen oder ihr Handy zu laden. "Auch deshalb kommen die Menschen zu uns, um ganz praktische Dinge zu tun", erklärt er. Zwei Mal pro Woche können die Obdachlosen im "Gubbio" zudem an geistlichen Angeboten teilnehmen, die manchmal auch der Kölner Weihbischof Ansgar Puff leitet. Viele Menschen seien gläubig - trotz oder gerade wegen ihrer Lebenslage.

Schwester Christina Klein / © Harald Oppitz (KNA)
Schwester Christina Klein / © Harald Oppitz ( KNA )

Die wohnungslose Lina* trägt um ihren Hals eine Kette mit einem kleinen Kreuz aus Holz. "Die Schöpfung, das ist das wichtigste für sie", sagt Schwester Christina. Lina schlafe meist draußen, sogar wenn sie im "Gubbio" übernachtet, dann eben im Innenhof.

Lina sitzt auf den Treppenstufen im Kloster. Neben ihrem großen Rucksack steht ein kleiner Karton. Es piept. "Ich habe sie vor zwei Wochen gefunden. Sie ist aus dem Nest gefallen", erzählt Lina und zeigt eine kleine Taube. Seitdem ist "Gottlieb" immer bei ihr. Bis er stark genug ist und fliegen kann, will sie ein "Gubbio" für den kleinen Vogel sein.

Das Erzbistum Köln

Ende 2021 gehörten 1.805.430 Katholiken zum Erzbistum Köln. Das sind 63.137 weniger als im Jahr davor. Der Rückgang setzt sich im Vergleich zum Corona-Jahr 2020 zusammen aus 40.772 Kirchenaustritten (2020: 17.281) sowie der Differenz zwischen den Sterbefällen (27.503) und den Taufen (10.286), die gegenüber 2020 (7.845) angestiegen sind. 

Blick auf den Kölner Dom / © Harald Oppitz (KNA)
Blick auf den Kölner Dom / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
KNA