Eine Ärztin berichtet von ihren Erlebnissen mit dem Krankenpilgerzug

"Lourdes hat etwas von einem Suchtfaktor"

Einmal im Mittelpunkt zu stehen und nicht an den Rand gedrängt zu werden, das erleben die Kranken, die sich mit dem Deutschen Lourdes-Verein Pfingsten auf in den französischen Wallfahrtsort gemacht haben. Donata Zerwas war mit dabei.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Die Ärztin Donata Zerwas fährt seit über 20 Jahren nach Lourdes (privat)
Die Ärztin Donata Zerwas fährt seit über 20 Jahren nach Lourdes / ( privat )

DOMRADIO.DE: Seit über 20 Jahren begleiten Sie ehrenamtlich als Ärztin Wallfahrten nach Lourdes. Auch beim diesjährigen Kranken-Sonderzug des Deutschen Lourdes-Vereins, der  traditionell in enger Zusammenarbeit mit dem Malteserorden organisiert wird, waren Sie Teil des Ärzteteams. Was ist das Besondere an dieser Fahrt?

Donata Zerwas (Fachärztin für Anästhesie und Allgemeinmedizin): Dass die Kranken im Zentrum stehen und sie darauf vertrauen dürfen, dass sie engmaschig pflegerisch, medizinisch und menschlich zugewandt betreut werden. Das ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal. 

Ein speziell zugeschnittener Parcours ermöglicht es ihnen genauso wie den gesunden, den Felsen der Grotte von Massabielle, wo die Gottesmutter dem armen Hirtenmädchen Bernadette Soubirous als "weiße Dame" erschienen ist, zu berühren, eine Kerze aufzustellen oder Lourdes-Wasser zu trinken. Die intensive Betreuung durch die Malteser, von denen eine gewinnende Freundlichkeit ausgeht, ist sehr eindrucksvoll. 

Gemeinsam mit ihnen bilden wir vom Deutschen Lourdes-Verein ein starkes Team, mit dem wir über die Jahre sehr zusammengewachsen sind. Man hilft und unterstützt sich gegenseitig. Die Malteser tragen lediglich ein Schild mit dem Vornamen. Rang und Titel spielen hier keine Rolle. Wir begegnen uns auf Augenhöhe, und alle verbindet das gemeinsame Ziel, zur Gottesmutter zu pilgern und daraus Kraft für die Bewältigung des Alltags zu schöpfen – trotz oft schwerer Erkrankung. Manche Pilger aber haben auch einen Schicksalsschlag zu verarbeiten, so dass ihr Leid nicht immer sichtbar ist, sie aber dennoch auf Zuwendung angewiesen sind und ihnen gut tut, dass sie gesehen werden.

Gruppenfoto der Lourdes-Wallfahrer an der Rosenkranzbasilika / © Wenglorz (EBK)
Gruppenfoto der Lourdes-Wallfahrer an der Rosenkranzbasilika / © Wenglorz ( EBK )

In Lourdes erlebe ich, dass Menschen aller Generationen – auch junge Leute oder Eltern mit ihren Kindern – von der Atmosphäre einer sehr eigenen Glaubenswirklichkeit ergriffen werden. Sie spüren, dass etwas mit ihnen geschieht und in ihrem Inneren etwas zu wachsen beginnt. Marienverehrung ist nicht nur etwas für ältere Menschen, wie man meinen könnte. Im Gegenteil: Zugang zu Maria – einer Mutter, der man sich mit den eigenen Sorgen und Nöten anvertrauen darf in der Hoffnung auf Heilung an Leib und Seele – finden Gläubige jeden Alters. Und: In Lourdes ist niemand allein. Auch das macht diesen Ort so außergewöhnlich.

DOMRADIO.DE: Viele Pilger haben eine bewegende Krankengeschichte. Manche können nur liegend transportiert werden. Dass das reibungslos, auch über Nacht im Lazarettwagen des Zuges, funktioniert – immerhin dauert die Reise insgesamt 30 Stunden – gewährleisten die Malteser mit einer großen Zahl an freiwilligen Helfern. Wie erleben Sie die Kranken? Mit welchen Erwartungen pilgern die Menschen an die Erscheinungsgrotte von Massabielle? 

Donata Zerwas

"Wir vermeintlich Gesunden können von den Kranken noch eine Menge lernen, so dass jede Begegnung ein Geben und Nehmen ist."

Zerwas: In der Tat nehmen sie mit dieser Pilgerreise eine große Anstrengung auf sich. Von daher treibt sie die Hoffnung, dass sich noch einmal in ihrem Leben etwas zum Guten wendet. Ein Gefühl, das alle verbindet, ist Solidarität und Hoffnung. Die Kranken wissen voneinander, dass jeder sein eigenes schweres Kreuz zu tragen hat. Trotzdem spüre ich nie so etwas wie Resignation oder Wut, dass jemand mit dem, was ihm auferlegt ist, hadert. Im Gegenteil: Wir vermeintlich Gesunden können von den Kranken noch eine Menge lernen, so dass jede Begegnung ein Geben und Nehmen ist. Es ist ein selbstverständliches Miteinander, das von demselben Geist getragen ist und sich durch eine besondere Zugewandtheit ausdrückt: untereinander, aber auch zwischen den Kranken und den Helfern. 

Kardinal Woelki bei der Lourdes-Wallfahrt im Gespräch mit einer Teilnehmerin / © Wenglorz (EBK)
Kardinal Woelki bei der Lourdes-Wallfahrt im Gespräch mit einer Teilnehmerin / © Wenglorz ( EBK )

Es gibt keinerlei Berührungsängste, alle gehen achtsam und geradezu liebenswürdig miteinander um. Wir Ärzte, aber auch die geistliche Pilgerleitung – Monsignore Markus Hofmann und Pfarrer Wilhelm Darscheid – sind immer präsent und ansprechbar. Allein schon die lange Zugfahrt schweißt die Gruppe unglaublich zusammen. Die vielen persönlichen Gespräche, aber auch das gemeinsame Gebet schaffen von Anfang an eine Atmosphäre des vertrauensvollen Miteinanders. Jeder bringt eine große Offenheit für diese Begegnung mit und die Bereitschaft, Glaubenserfahrungen miteinander zu teilen. 

DOMRADIO.DE: Seit der ersten Marienerscheinung 1858 sind mehr als 30.000 Heilungen gemeldet. 2.000 gelten als "medizinisch unerklärlich"; 72 hat die Kirche offiziell als Wunder anerkannt. Hofft jeder, der nach Lourdes pilgert, dass das Unbegreifliche – ein Wunder – geschieht?

Zerwas: Die allerwenigsten, denke ich. Jedenfalls ist es nicht das, was ich bei der Begegnung mit den Kranken höre. Und trotzdem hat Lourdes für die meisten etwas Magisches. Was sie sich wohl erhoffen, ist eine Linderung ihres Leidens. Darauf lässt sie ihr tiefer Glaube hoffen. Man trifft aber auch auf unfassbare Leidensgeschichten. Wenn ich da an eine Frau denke, etwa Anfang 50, deren Port ich mit meinem ärztlichen Kollegen, Professor Alexander Schuh, wechseln musste – fragt man sich schon, was ein Mensch alles aushalten kann. Diese Patientin berichtete uns von 19 Blutvergiftungen, die sie aufgrund dieses Dauerkatheters, der sie mit Nahrung versorgt, schon erlitten hat, da sie keinen Dickdarm mehr hat. Auch im Koma gelegen hat sie schon, ein anderes Mal sei sie gestürzt und habe sich dabei beide Kniescheiben zertrümmert. Es gibt Schicksale – da kommen einem die Tränen. Das lässt niemanden unberührt. Und dann sagt so jemand, der Tag und Nacht auf vollständige Hilfe angewiesen ist: Wenn ich meinen Glauben nicht hätte…! 

Mariä-Empfängnis-Basilika in Lourdes / © Spirit Stock (shutterstock)
Mariä-Empfängnis-Basilika in Lourdes / © Spirit Stock ( shutterstock )

Oder aber wir hatten eine 86-Jährige, die völlig desorientiert aufgegriffen wurde und aufgrund ihrer Demenz nicht mehr allein gelassen werden konnte, so dass ihr dafür während der ganzen Wallfahrt eine Rund-um-die Uhr-Betreuung zur Seite gestellt werden musste. Auch hier haben die Malteser beherzt ihre Bereitschaft gezeigt und für Entlastung gesorgt. Dann gab es eine Herzpatientin, die ihre gesamten Medikamente vergessen hatte, auf die sie dringend angewiesen war. Also galt es, Pfingstsonntag eine Notapotheke ausfindig zu machen, die es in ganz Lourdes nicht gab. Besonders dramatisch war der Fall einer Patientin mit Schluckstörung, die plötzlich einen Asthmaanfall bekam, an Luftnot litt und Angst hatte zu ersticken. Ich habe dann beruhigend auf sie eingewirkt und versichert: Wie können Ihnen helfen! Später sagte sie mir immer wieder: "Ich dachte, ich muss sterben."

Donata Zerwas

"In Lourdes erleben sie, dass sie eben trotz ihrer Einschränkung oder ihres Handicaps nicht an den Rand gedrängt werden, sondern in der ersten Reihe stehen und immer Vorfahrt haben."

Also, das Spektrum an medizinischen Herausforderungen ist enorm und erfordert größtmögliche Flexibilität. Und um die Frage zu beantworten: Nein, die Menschen erwarten keine Wunder, aber – wie gesagt – Linderung ihrer Beschwerden. Und sie erhoffen sich eine Stärkung. In Lourdes erleben sie, dass sie eben trotz ihrer Einschränkung oder ihres Handicaps nicht an den Rand gedrängt werden, sondern in der ersten Reihe stehen und immer Vorfahrt haben. Und das nehmen sie mit einer großen Dankbarkeit wahr.

Lourdes-Wallfahrt mit Erzbischof Woelki / © Alexandra Wenglorz  (Erzbistum Köln)
Lourdes-Wallfahrt mit Erzbischof Woelki / © Alexandra Wenglorz ( Erzbistum Köln )

DOMRADIO.DE: Das Wallfahrtsprogramm sieht regelmäßige Messfeiern und Gebete vor, am Abend jeweils die Marianische Lichterprozession mit dem Rosenkranzgebet durch den Heiligen Bezirk. Als Höhepunkt gilt die Internationale Messe zu Pfingsten in der unterirdischen Basilika Pius X., die Kardinal Woelki zelebriert hat. Was nehmen die Menschen aus einer solchen Feier mit?

Zerwas: Natürlich hat jeder, der nach Lourdes pilgert, ein Anliegen. Von daher hoffen die Menschen auf eine Gebetserhörung. Denn die meisten kommen mit einem unerschütterlichen Glauben, der im Übrigen ja auch auf andere wirkt. In einem solchen Gottesdienst, was aber eigentlich für alle Andachten und Gebetseinheiten gilt, erfahren sie in dieser riesigen Gruppe Gleichgesinnter eine Kraftquelle. Davon erzählen sie auch immer wieder. Bei der abendlichen Lichterprozession werden große Schalen mit schriftlichen Gebetsanliegen zu Füßen der Muttergottes gelegt – im Vertrauen darauf, dass sich in ihrem Leben etwas zum Guten verändert und sich damit eine Sehnsucht erfüllt. Wobei es nicht immer nur um körperliche Gebrechen oder seelische Wunden geht, sondern auch darum, "Ja" zu dem eigenen Leiden zu sagen und es anzunehmen. Meist löst sich dann ein Knoten, der zu einer Art inneren Befreiung führt. Manchmal geht es aber auch um die Aktivierung von Selbstheilungskräften. Die Menschen erleben eine Verwandlung. Ihre Ängste, Nöte und Beschwernisse werden in Zuversicht und auch ein Stück Lebensmut verwandelt.

Donata Zerwas

"Hier, wo die 'wunderschöne Dame' Bernadette erschienen ist und sich als 'Unbefleckte Empfängnis' zu erkennen gegeben hat; wo der Himmel die Erde berührt hat (…) ist Lourdes am authentischsten."

Eigentlich sind alle Gottesdienste sehr berührend. Kardinal Woelki hat sehr marianisch und missionarisch gepredigt – gleich in mehreren Sprachen – auch das saugen die Menschen geradezu auf. Für mich persönlich ist es vor allem immer die Eucharistiefeier an der Grotte selbst, die mich anspricht. Hier, wo die "wunderschöne Dame" Bernadette erschienen ist und sich als "Unbefleckte Empfängnis" zu erkennen gegeben hat; wo der Himmel die Erde berührt hat. Hier, wo die vielen Opferkerzen brennen, ist Lourdes am authentischsten. Hier wird das Erleben ganz intensiv – besonders in der wohltuenden abendlichen Stille. Hier lässt sich stundenlang in der Dunkelheit ausharren. Und natürlich macht das was mit einem. Nicht umsonst werden viele zu "Wiederholungstätern". Schließlich hat Lourdes etwas von einem Suchtfaktor.

DOMRADIO.DE: Die Gruppe bestand aus über 500 Pilgerinnen und Pilger, von denen die meisten in Hotels untergebracht waren, während die Kranken im Accueil Notre Dame liebevoll betreut wurden. Welche Rolle spielt die Gemeinschaft?

Zerwas: Eine ganz entscheidende. Denn die Gemeinschaftserfahrung trägt durch diese Tage. Zu erleben, ich bin mit meinem Schicksal nicht alleine und trotz meiner Gebrechlichkeit habe ich einen Wert und bin geliebt, gehört ganz wesentlich zu diesem Ort, der nicht umsonst als Gnadenort bezeichnet wird. Denn Heilung kann viele Gesichter haben. Außerdem – auch das wurde spürbar – waren wir in Anlehnung an das Motto des Heiligen Jahres als "Pilger der Hoffnung" unterwegs. Was das heißt, war in den letzten Tagen geradezu greifbar.

DOMRADIO.DE: Sie sagen, wer einmal in Lourdes war, kommt wieder. Was macht die Faszination dieses Wallfahrtsortes aus?

Zerwas: Neben der spirituellen Atmosphäre sind es die tiefen Gespräche, für die alle eine große Offenheit mitbringen. Hier geht es nicht um Banales oder Oberflächliches. Dennoch hat auch Geselligkeit ihren Platz. Trotz der großen Menge an Pilgern – und da trägt jeder sein Päckchen – herrscht eine fast überirdische, himmlische Atmosphäre. Das ergreift einen. Mir jedenfalls geht es so, dass ich immer wieder eine Weile brauche, um danach im Alltag anzukommen und geerdet zu werden. Man ist von Lourdes beseelt und will unbedingt an diesen wundersamen Ort zurückkehren.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti. 

Lourdes

Madonna vor der Lourdesgrotte / © Maike Müller (KNA)
Madonna vor der Lourdesgrotte / © Maike Müller ( KNA )

Lourdes ist einer der berühmtesten Wallfahrtsorte der Welt. In dem südfranzösischen Städtchen soll 1858 dem damals 14-jährigen Hirtenmädchen Bernadette Soubirous (1844-1879) insgesamt 18 Mal Maria erschienen sein.

Laut den Berichten des Mädchens wies die als "weiße Dame" und als "Unbefleckte Empfängnis" auftretende Gottesmutter sie an, Wasser aus einer Quelle zu trinken, Buße zu tun und "den Priestern zu sagen, hier eine Kapelle zu bauen und dass man hierher in Prozessionen kommen solle". 1862 wurden die Erscheinungen vom Ortsbischof, 1891 von Papst Leo XIII. anerkannt.

Quelle:
DR

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