Ein Jahr nach den Überschwemmungen im Erzbistum Köln

Als die Fluten kamen

Das Ahrtal, Erftstadt, Bad Münstereifel: Die Bilder der Folgen der Flutkatastrophe gingen um die Welt. Doch wie erging es den kleinen Dörfern in der Region, die nicht im Fokus der Medien standen? Kamen auch dort Hilfe und Helfer an?

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Aufräumarbeiten nach der Flut in Euskirchen im Sommer 2021 (Archiv) / © N.N. (privat)
Aufräumarbeiten nach der Flut in Euskirchen im Sommer 2021 (Archiv) / © N.N. ( privat )

Bis vor kurzem hing noch Stroh in den gut drei Meter hohen Kronen der Bäume an der Lilienstraße: "Daran konnte man sehen, wie hoch das Wasser gestiegen war", erzählt Dorothea Meyer und zeigt nach oben. Die Flut vor einem Jahr hatte die Strohballen auf den umliegenden Feldern mit sich gerissen, danach waren die Büschel und Ballen in ganz Roizheim verteilt gewesen. Roitzheim ist ein Stadtteil von Euskirchen, durch den die Erft gemächlich vor sich hin gurgelt. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 verwandelte sich der Bach in einen reißenden Strom.

Fast jeder in dem 1000-Einwohner-Dorf war betroffen: Autos, Geröllmassen und Häuser wurden mitgerissen. Dorothea Meyer versucht in jener Nacht gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn den vollgelaufenen Keller ihres Hauses mit Eimern zu leeren – die Pumpen sind ausgefallen. Bis sie um 3 Uhr morgens aufgaben und sich in den ersten Stock flüchteten. Strom, Wasser und Handynetz sind ausgefallen, als sie sich am nächsten Morgen das erste Mal vor die Türe traut. Das Wasser hatte sich aus ihrer Straße wieder zurückgezogen, was blieb, waren Schlamm und Geröll. "Ich konnte es fast nicht ertragen", erinnert sie sich.

Warten auf Hilfe

Während sie die Lilienstraße am Ufer der Erft entlangläuft, deutet sie auf eine staubige Fläche mit einem Bagger: Der einstige Fußballplatz des SC Roitzheim, er war der Stolz des Dorfes gewesen: Erst 2020 hatte er einen Kunstrasenplatz und ein neues Vereinsheim bekommen. Beides wartete wegen der Corona-Pandemie noch auf die Einweihung, doch die Wassermassen rissen alles mit sich. Heute ist von dem Vereinsheim nur noch eine baufällige Ruine übrig.

Dorothea Meyer und Luise Esser vor der Erft / © Ina Rottscheidt (DR)
Dorothea Meyer und Luise Esser vor der Erft / © Ina Rottscheidt ( DR )

Als Mitglied im Ortsausschuss kümmert sich Dorothea Meyer in der Gemeinde um das Organisatorische und kennt fast alle im Dorf. Immer noch türmt sich Sperrmüll am Straßenrand, an einer durch die Wassermassen lädierten Fußgängerbrücke über die Erft begegnet sie Luise Esser: Auch sie hat ihr Haus dort verloren. Bis heute wartet 65-jährige auf das Geld von der Versicherung. Die 100.000 Euro für den Abriss des alten Hauses musste sie selbst zahlen.

Viele fühlen sich allein gelassen

Solche Fälle gebe es häufiger, erzählt Saskia Reder. Sie arbeitet im Fluthilfebüro der Caritas, das direkt neben der Kirche Herz Jesu in Euskirchen liegt. "Es gibt immer noch Menschen, die vor dem Nichts stehen, Schlamm in der Wohnung haben oder das Haus entkernt ist. Sie kommen nicht vorwärts, weil sie kein Geld bekommen, keine Handwerker finden oder psychisch überfordert sind“, erzählt sie.

Saskia Reder und Doreen Zilske vom Fluthilfebüro der Caritas in Euskirchen / © Ina Rottscheidt (DR)
Saskia Reder und Doreen Zilske vom Fluthilfebüro der Caritas in Euskirchen / © Ina Rottscheidt ( DR )

Über 4000 Menschen hat die Caritas in Euskirchen im letzten Jahr mit Soforthilfen, Haushaltsbeihilfen und Zusatzunterstützung finanziell unterstützt. Mehrere Millionen Euro wurden ausgezahlt. Jetzt gehe es überwiegend um psychosoziale Beratung, so Reder: "Viele Menschen haben das letzte Jahr einfach funktioniert, jetzt kommt erst langsam alles hoch.  Wir helfen, das Chaos im Kopf zu sortieren, wir bieten Aktionen für Kinder und Jugendliche an oder Entlastung für die Eltern."

Was die Sozialarbeiterin besonders beeindruckt hat, war die große Solidarität: Trotz der Überforderung seien die Menschen zusammengewachsen, sagt sie: "Es war unglaublich, wie von allen Seiten Hilfe kam", erinnert sie sich: "Menschen kamen zu uns und haben einfach, ohne groß zu fragen, mit angepackt. Ohne die hätten wir es niemals geschafft!"

Große Solidarität

Diese Solidarität bekam auch die Gemeinde in Roitzheim zu spüren: In St. Stephanus, der einzigen Kirche im Dorf, lief der Heizungskeller lief voll und – was die Menschen im Dorf besonders schmerzte – das Wasser zerstörte die Roizheimer Krippe: ein Schmuckstück, das in Jahrelanger Handarbeit von zwei Männern aus dem Ort gebastelt und gestaltet worden war. "Das war etwas ganz Besonderes und nach der Flut war alles voller Schlamm und Schimmel. Die Krippe zu verlieren, war für die Roizheimer schlimm!", erzählt Dorothea Meyer. Nur die kleine Jesusfigur aus der Krippe blieb wie durch ein Wunder erhalten.

Auch hier funktionierte die Solidarität: Nach der Flut bekam die Kirche von mehreren Gemeinden aus dem Seelsorgebereich Erftmühlenbach Krippen geliehen. Weil sich niemand von St. Stephanus für eine einzige entscheiden wollte, standen Weihnachten 2021 gleich vier Krippen in der Kirche: Ein Zeichen von gelebter Gemeinschaft. Und zum nächsten Weihnachtsfest – das hat ihnen Pfarrer Tobias Hopmann von der Stadtpfarrei St. Martin in Euskirchen fest versprochen – sollen die Roizheimer wieder ihre eigene Krippe bekommen. Dann hätte auch der kleine Jesus, der die Flutkatastrophe überstanden hat, wieder seinen Platz in der Krippe.

Die Flutkatastrophe im Juli 2021 und ihre Nachwehen

Bei der Flutkatastrophe im Juli 2021 im Westen Deutschlands kommen allein in Rheinland-Pfalz mindestens 136 Menschen ums Leben.  In Nordrhein-Westfalen sterben bei Hochwasser nach extremem Starkregen 49 Menschen; mit 180 Städten und Gemeinden ist fast die Hälfte der Kommunen betroffen. Eine Chronologie der Ereignisse:

11.7.: Der Deutsche Wetterdienst (DWD) warnt am Vormittag vor extremem Starkregen mit bis zu 200 Litern Regen pro Quadratmeter innerhalb von 60 Stunden. Eine genaue Vorhersage, wo die riesigen Mengen niedergehen werden, ist nicht möglich.

Nach der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen / © Marius Becker/dpa (dpa)
Nach der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen / © Marius Becker/dpa ( dpa )
Quelle:
DR
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