Droht den Alawiten in Syrien Vergeltung?

Alawiten in Angst

Nach Assads Sturz kommt es in Syrien vermehrt zu Übergriffen auf die Religionsgruppe der Alawiten. Viele von ihnen hatten Jahrzehntelang das Assad-Regime unterstützt, der selbst Alawit ist. Jetzt fürchten sie Vergeltung.

Autor/in:
Rena Netjes und Marion Sendker
Die Flagge der syrischen Revolution / © Marion Sendker (privat)
Die Flagge der syrischen Revolution / © Marion Sendker ( privat )

Schüsse fallen im syrischen Nachthimmel; "Homs gehört den Sunniten! Alawiten raus!", brüllen Menschen auf der Straße. Sie springen im Chor auf und ab und schwenken die Fahne der syrischen Revolution. Die Szene spielt sich in der Stadt Homs in Syrien ab, Ende Januar. Ein Video davon wird in den sozialen Medien von Gruppen geteilt, die dem Ex-Diktator Bashar al-Assad treu sind und den Konflikt mit den Alawiten für ihre Sache ausnutzen. 

Alawiten sind eine religiöse Minderheit in Syrien. Seit dem Umsturz im Dezember fühlen sich viele bedroht. Assad ist wie sie ein Alawit. Die neue Interimsregierung hingegen ist, wie die Mehrheit im Land, sunnitisch. Angeführt wird sie vor allem von Menschen, die der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS) nahestehen, die in vielen Ländern als Terrororganisation gilt.

Verfolgte Religionsgemeinschaft

Angst vor Verfolgung tragen Alawiten seit Entstehung der Religionsgemeinschaft vor etwa 1000 Jahren durch die Generationen, erklärt der Nahost-Experte und Chefredakteur der Zeitschrift Zenith, Daniel Gerlach. Die alawitische Weltanschauung habe über Jahrhunderte vor allem in der Isolation stattgefunden. "Dadurch sind viele Gerüchte, Vorurteile und Missverständnisse in Umlauf gekommen", sagt Gerlach. 

Homs gilt als Stadt der Revolution / © Marion Sendker (privat)
Homs gilt als Stadt der Revolution / © Marion Sendker ( privat )

Rechtsgutachten von vor allem sunnitischen Gelehrten stigmatisierten Alawiten im Laufe der Jahrhunderte als Ungläubige, Übertreiber oder Esoteriker. Die Folge: Bis heute gibt es verschiedene Antworten auf die Frage, wer oder was ein Alawit ist und woran er glaubt. Das gelte mittlerweile selbst für große Teile der Glaubensgemeinschaft, sagt Gerlach. Die meisten Alawiten seien säkular, nur wenige wüssten über die weltanschaulichen Details Bescheid. 

Aus Gesprächen mit alawitischen Gelehrten weiß er, dass im ursprünglichen Glauben die griechische Philosophie eine sehr große Rolle spielte: "Man geht davon aus, dass griechische Philosophen wie Aristoteles, Sokrates oder Platon ganz maßgeblich zur Offenbarung des göttlichen Wissens und zur Erleuchtung der Menschen beigetragen haben – und das, bevor die Botschaft des Islams zu den Menschen gekommen ist." 

Gehilfen des Diktators

Dagegen ordnen Iran oder Syrien die Alawiten pauschal als Teil einer schiitischen Rechtsschule ein. Für den Gottesstaat Iran war diese Lesart praktisch: Die Islamische Republik war großer Unterstützer von Diktator Assad gewesen. Der hatte – wie sein Vater vor ihm – einen Großteil der syrischen Alawiten zur wichtigen Säule des brutalen Sicherheitsapparats gemacht. Entführungen, Folter, Massenmorde: An höchster Stelle waren Alawiten beteiligt. Assad versprach ihnen Sicherheit, sie töteten für ihn. Unvergessen sind die zahlreichen Massaker, wie das im Jahr 1982 im mehrheitlich sunnitisch bewohnten Hama. Schätzungen zufolge starben damals mindestens 10.000 Zivilisten. 

Die über Jahrhunderte verfolgte religiöse Minderheit wurde unter den Assads selbst zum Verfolger. Aus Millionen Syrern wurden Flüchtlinge und Vertriebene im eigenen Land. Nur wenige Alawiten widersetzten sich den Assads und bezahlten dafür mit dem Leben. Viele sahen schweigend zu, mehr als 50 Jahre lang. 

Keine Wahl gehabt?

Heute argumentieren manche Alawiten, sie hätten keine andere Wahl gehabt. Ein Mann aus der Küstenstadt Latakia erklärt: "Alawiten sollten arm und dumm bleiben und keine andere Hoffnung haben, als bei der Armee etwas Geld zu verdienen." Der Mann möchte anonym bleiben, weil er Angst vor Racheakten hat. 

Gespräche mit einer schiitischen Gemeinschaft im Umland von Homs / © Rena Netjes (privat)
Gespräche mit einer schiitischen Gemeinschaft im Umland von Homs / © Rena Netjes ( privat )

Vor allem in der Küstenregion im Westen und in Homs gebe es mittlerweile jeden Tag Bedrohungen und Übergriffe, erzählt eine Alawitin, die ebenfalls in Latakia wohnt: "Mal siehst du einen Toten in der Nähe der Mülltonnen, mal hängt einer an der Brücke." Auch diese Frau möchte ihren Namen nicht verraten. Sie erzählt von ausländischen Kämpfern und Männern, die zum HTS gehören sollen. "Sie verteilen Waffen an die sunnitischen Nachbarschaften, damit die uns umbringen."

Das Konfliktpotential ist hoch. Seit Wochen versuchen Syriens neue Machthaber, Racheakte, Selbstjustiz und Sektarismus zu verhindern. Einer von ihnen ist Mohamed al-Jabar, Kommandant in der Syrischen Nationalarmee (SNA), ein Zusammenschluss überwiegend nicht-islamistischer anti-Assad-Milizen. 

Kommandant al-Jabar spricht zu Alawiten im Umland von Homs / © Rena Netjes (privat)
Kommandant al-Jabar spricht zu Alawiten im Umland von Homs / © Rena Netjes ( privat )

Al-Jabar reist seit dem Umsturz mit seinen Männern durch das Land, spricht mit schiitischen oder alawitischen Stämmen und verspricht Sicherheit. Sie sollen Teil des neuen Syriens sein. "Meine Brüder, bitte organisiert euch nicht mit den Zellen des ehemaligen Regimes, Chaos und Banden erlauben wir nicht!", appellierte Kommandant al-Jabar Ende Dezember, im Umland von Homs, bei einer Tour auf Initiative eines sunnitischen Sheiks. Seine Reden ähneln sich. 

Aufruf zur Gegenrevolution

In die Küstenregionen haben Männer wie er es bisher kaum geschafft. Dort formieren gelegentlich Assad-Loyalisten neue Gruppen und rufen zur Gegenrevolution auf. Gleichzeitig wird über die sozialen Medien um das Narrativ gekämpft. Assad-treue Aktivisten veröffentlichen täglich Videos, die zeigen, wie Kämpfer des HTS oder andere Extremisten gegen Alawiten vorgehen. Diesen Sektarismus zu schüren, ist ein Teil ihrer Strategie, die neue Führung im Land zu delegitimieren.

Nicht alle Clips der hetzerischen Accounts können verifiziert werden, manche stellen sich nach längerer Recherche als gefälscht heraus. Medienanfragen von westlichen Journalisten bei pro-Assad Aktivisten werden oft abgelehnt. Die Journalisten werden bezichtigt, selbst Terroristen zu sein, weil ihre Regierungen versuchen, mit der neuen Interimsregierung in Damaskus Beziehungen aufzubauen. Auszugsweise heißt es etwa in einer Antwort: "Wie können wir wissen, dass Sie nicht versuchen, uns in die Falle zu locken, damit wir von den islamistischen HTS -Terroristen massakriert werden?"

Altstadt von Aleppo / © Marion Sendker (privat)
Altstadt von Aleppo / © Marion Sendker ( privat )

Zum Teil findet der Konflikt selbst auf deutschen Straßen statt: In manchen Städten protestieren Alawiten für ihre Rechte in Syrien, Sunniten brüllen dagegen an. In ihrer Heimat wünschen sich die meisten Syrer derweil eine friedliche Aussöhnung und ein Ende der Unterscheidung in religiöse oder ethnische Gruppen. 

Viele fordern auch Haftstrafen für die, die den früheren Machthaber Assad aktiv unterstützt hatten. In dem Fall warten wohl zehntausende Einzelfälle auf syrische Gerichte – die bisher noch gar nicht vollends aktiv sind. Zahlreiche vertriebene Syrer berichten zudem von Streitigkeiten mit Anhängern des alten Regimes, die ihre Häuser besetzt halten. Der Weg zu einem vereinten und friedlichen Syrien ist noch weit.

Quelle:
DR

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