epd: Herr Bischof, die Jahreslosung für 2026 lautet "Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu!" In einer Zeit voller Krisen klingt das wie eine Vertröstung auf die ferne Zukunft. Wie passt dieser Satz in unsere Gegenwart?
Frank Otfried July (Württembergs früherer evangelischer Bischof): Der Satz ist in erster Linie ein Trostwort, ursprünglich für Menschen in einer Verfolgungssituation geschrieben. Heute kann er wie ein Entlastungspaket wirken. Viele Menschen leben unter der enormen Belastung, globale Probleme wie Krieg oder die Klimakrise allein stemmen zu müssen. Die Zusage, dass Gott am Ende alles neu macht, entlastet von diesem Druck. Sie ist aber kein Aufruf zur Tatenlosigkeit.
epd: Bedeutet das, Christen können sich gelassener engagieren als beispielsweise Aktivisten der "Letzten Generation"?
July: Das Engagement dieser jungen Leute ist wichtig und hat einen guten Willen. Sie legen sich damit aber auch eine Wahnsinnslast auf, unter der Einzelne psychisch fast kollabieren. Wer daran glaubt, dass Gott das letzte Wort hat, muss sich nicht selbst als die letzte Rettung verstehen. Es gilt: Wer ums Letzte weiß, kann sich im Vorletzten einbringen, ohne das Vorletzte zum Letzten zu machen. Das ermöglicht ein Engagement aus einer stabilen inneren Haltung heraus.
epd: Welche Bedeutung hat das kleine Wort "Siehe" am Anfang des Satzes?
July: Es ist eine Aufforderung, in unserer abgelenkten Zeit innezuhalten und wirklich hinzuschauen, statt nur auf Bildschirme zu blicken. Martin Luther sprach von der "selbstverkrümmten" Blickrichtung des Menschen. Das "Siehe" kann diesen Blick aufreißen, den Horizont erweitern und neue Perspektiven schenken. Dieser Satz hat also auch eine starke therapeutische Wirkung. Er lädt ein, neu zu sehen und einander wieder richtig zuzuhören.
Das Interview führte Marcus Mockler.