Die "Wilde Kirche" verbindet Naturerleben mit Spiritualität

Gemeinschaft und Verbundenheit erfahren

Viele Menschen wenden sich enttäuscht von der Kirche ab, andere suchen neue Ausdrucksformen des Glaubens und finden Trost und Kraft in der Natur. Eine neue, vielerorts entstehende Bewegung knüpft an dieses Erleben an.

Autor/in:
Angelika Prauß
Ein Zettel mit einem Psalm steckt zwischen den Halmen von Dünengras - Strandhafer - am Strand der Insel Norderney / © Harald Oppitz (KNA)
Ein Zettel mit einem Psalm steckt zwischen den Halmen von Dünengras - Strandhafer - am Strand der Insel Norderney / © Harald Oppitz ( KNA )

Mittendrin sein statt nur Beobachter, sich mit der Schöpfung tief verbunden fühlen - das sind zwei Gefühlslagen, die das Erleben von Menschen ausmachen, die sich der "Wilden Kirche" zugehörig fühlen. Wilde Kirche? Das klingt nach Chaos und Anarchie. Falsche Fährte. Vielmehr wird die Natur selbst - Erde, Himmel, Wasser - als Kirche, als heiliger Raum erlebt.

Neue spirituelle Strömung

Den Begriff geprägt hat die US-Amerikanerin Victoria Loorz. In ihrem Buch "The Church of the Wild" wollte sie vor einigen Jahren in Erinnerung rufen, dass Menschen schon immer in enger, auch spiritueller Verbindung zur Natur gelebt haben. Daran gelte es heute wieder anzuknüpfen. 

Die Idee, Gottesdienst in der Natur zu feiern sowie Spiritualität und Natur zu verbinden, habe es zwar schon vor Jahrzehnten gegeben, sagt Arnd Corts. Aber das Buch von Loorz sei eine Art Initialzündung für eine neue spirituelle Strömung gewesen, erklärt Corts, der in Deutschland die Entstehung der Wild-Church-Bewegung begleitet.

Symbolbild Frau mit Rucksack im Wald / © Day2505 (shutterstock)
Symbolbild Frau mit Rucksack im Wald / © Day2505 ( shutterstock )

"Es trifft den Nerv der Zeit"

Das Thema sei in den USA damals "regelrecht explodiert". Zum einen hätten kirchliche Gruppen ihre Liebe zur Natur entdeckt; und auch Umweltaktivisten suchten nach einem spirituellen Schulterschluss. In den vergangenen Jahren habe die Idee der Wild Church in vielen anderen Ländern eine weitere Dynamik entwickelt. 

"Es trifft einfach den Nerv der Zeit. Viele Christen sind von der Kirche enttäuscht und suchen etwas anderes, an dem sie anknüpfen können; andere wollen die kirchliche Dogmatik hinter sich lassen und landen bei der Verbindung von Natur und Kirche."

Suche nach neuen Ausdrucksformen des Glaubens

Dabei sei diese Bewegung keine "Kirche" im körperschaftlichem Sinn, stellt Corts klar; sie sei vielmehr im Individuellen zu finden. Auch im christlichen Glauben beheimatete Menschen freundeten sich auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen des Glaubens mit der Idee an. 

Zugleich fühlten sich mitunter Kirchen- oder Gemeindedistanzierte angesprochen, "die aufgrund von persönlichen Verletzungen oder sonstigen Gründen organisierter Religion misstrauen oder überhaupt keine Verbindung zu 'Kirche' haben oder nie haben wollten". Aber auch christliche Gruppen nutzten die Idee der Wild Church als "Konzept für experimentelle Liturgie".

Zehn regionale Gruppen in Deutschland

Und mancher sieht darin auch eine mögliche Zukunft für die Kirchen, wieder mehr Menschen anzusprechen. Denn: "Um sich der Wild Church zugehörig zu fühlen, muss man nicht die Mitgliedschaft in seiner Kirche oder das sonstige Gemeindeleben aufgeben", sagt Corts. Bislang gibt es hierzulande zehn regionale Gruppen - von der Ostsee bis München.

 Franziskaner in Assisi
 / © Francesco Pistilli (KNA)
Franziskaner in Assisi / © Francesco Pistilli ( KNA )

Auch Jan Frerichs fühlt sich der Idee der Wilden Kirche verbunden. Der ehemalige Franziskanermönch und Theologe hat bei einer Auszeit intensive spirituelle Erfahrungen durch kontemplatives Naturerleben gemacht. In seinem gerade erschienenen Buch "Wilde Kirche. Wie wir uns unsere spirituelle Heimat zurückholen" schildert er seine Erfahrungen. Als junger Ordensmann habe er während des Theologiestudiums gespürt, dass ihm bei allem Wissen über den Glauben "das Heilige verloren gegangen" sei.

"Tiefes Verstehen über alle Grenzen hinweg"

Einen anderen Zugang gewann er auf einer von Dauerregen ausgebremsten Pilgerreise. In einer kleinen toskanischen Franziskanergemeinschaft fand er in Unterschlupf. Ein Bruder lehrte ihn dort die Bedeutung des Sonnengesangs von Franz von Assisi. Auf sich zurückgeworfen lernte Frerichs dabei eine andere Art des Gebets kennen, eng verbunden mit der Natur und ihren Elementen. Er erlebte dabei fast mystische Momente - "geborgen, angenommen und akzeptiert" - und "ein tiefes Verstehen über alle Grenzen hinweg". Von seiner Auszeit habe er eine "alternative, wilde Erfahrung von Ewigkeit mitgenommen".

Eine Erfahrung mit Folgen. Frerichs trat aus dem Orden aus. Heute lebt er mit Frau und zwei Söhnen in Bingen und gehört dem Orden der franziskanischen Weltleute (OFS) an. Er hat eine "franziskanische Lebensschule" gegründet, und die Online-Plattform "barfuß + wild" ins Leben gerufen. Dort bringt er Gleichgesinnte zusammen, bietet Naturcoachings und "Visionssuche" in christlich-franziskanischem Kontext an. Er wirbt für eine Kosmologie, "die uns nicht abtrennt von allem, sondern mit allem verbindet".

Dunkle Wolken über dem Vatikan / © Gregorio Borgia (dpa)
Dunkle Wolken über dem Vatikan / © Gregorio Borgia ( dpa )

Ohne dogmatischen Überbau

Für Frerichs ist die Wilde Kirche keine neue Kirche, "sondern die ursprüngliche", ohne dogmatischen Überbau. Dabei sei es doch die Aufgabe der Institution Kirche, "Räume und Rahmen zu schaffen, in denen die Erfahrung Wilder Kirche möglich ist, denn sie entsteht und wächst dort, wo das Mysterium Raum bekommt, das wir Gott nennen oder Geist oder Liebe oder Leben oder einfach wahres Selbst", gibt er zu bedenken. Stattdessen sei die Kirche auf Selbsterhalt bedacht und verurteile "alles als 'esoterisch' und 'heidnisch', was nicht in den vom 19. Jahrhundert geprägten traditionellen Rahmen passt".

Frerichs geht es indes nicht darum, die Wilde Kirche gegen die Institution Kirche auszuspielen; vielmehr könne diese der Bewegung einen Rahmen bieten. Er verweist auf das Papst-Schreiben "Evangelii Gaudium", wonach der Hirte der Herde folgt, "weil die Herde einen eigenen 'Spürsinn' besitzt, um die richtigen Wege zu finden".

"Renaturierung des Glaubens"

Ein Spross der internationalen Bewegung um die Verbindung von Glaube und Natur ist auch das von Baden-Württemberg ausgehende Netzwerk Wilde Kirche. "Wilde Kirchen schaffen Biotope für die 'Renaturierung' des Glaubens", schreibt das Netzwerk auf seiner Homepage. Pfarrerin Ulrike Schaich sieht es als "Teil einer großen Bewegung". Inzwischen gebe es nicht nur "viele Leute, die dasselbe machen", sondern auch mehrere Netzwerke nebeneinander. Schaich hat eine Pfarrstelle für Schöpfungsspiritualität der evangelischen Landeskirche in Württemberg und bietet unter anderem Gottesdienste und Pilgerwanderungen mit Lamas an.

Als sie mit ihren Mitstreitern Gleichgesinnte miteinander vernetzen wollte, stellte sie fest: "Das gibt es ja bereits!" Weitere Initiativen fand sie, als sie zum Begriff "Schöpfungsspiritualität" recherchierte. All das habe sie in ihrem Engagement für die Wilde Kirche bestärkt. "Da bricht etwas auf, es gibt einen Sog in die Richtung." Solch eine Entwicklung könne man nicht "machen", aber aufmerksam sein, "wo sich Gelegenheiten auftun, wo der Heilige Geist hinweht. Ich gehe in die Richtung mit, auch wenn ich noch keine Ahnung habe, wo das Ganze hinführt."

Quelle:
KNA