Bundesrichter a.D. Fischer kritisiert Berichterstattung über Missbrauch

Die Kirche als Sündenbock?

Wird die Berichterstattung über das Missbrauchsgutachten im Erzbistum Köln zur medialen Hysterie, in der es mehr um Personalia als um die Sache geht? Der frühere Bundesrichter Thomas Fischer hat sich in seiner SPIEGEL-Kolumne geäußert.

Die Kirche als Sündenbock? / © SariMe (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Die Münchener Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl wirft dem Kölner Kardinal Woelki einen "Gewaltangriff" vor. Sie ärgert dieser Vorwurf. Warum?       

Prof. Dr. Thomas Fischer (Bundesrichter a.D.): Es ist ja offensichtlich, dass die Nichterfüllung einer Erwartung und die damit verbundene Enttäuschung mit dem Wort „Gewalt“ sehr übertrieben bezeichnet ist. Das ist doch eher ein emotionaler Ausdruck von Missstimmung als eine objektive Beschreibung. Das sollte eigentlich einer bekannten Anwaltskanzlei in der öffentlichen Diskussion so nicht passieren.

DOMRADIO.DE: Sie betrachten die Lage in der katholischen Kirche als Außenstehender. Wie erleben Sie denn diese öffentliche Darstellung der Ereignisse rund um Kardinal Woelki?

Fischer: Ich empfinde sie doch in hohem Maße - wenn ich mal dieses Schlagwort benutzen darf - als Hysterisierung. Alles ist überaufgeregt. Es steht ja außer Zweifel, dass es in der katholischen Kirche - wie auch in anderen Glaubensgemeinschaften und Organisationen - massive und strafrechtlich zu verfolgende missbräuchliche Strukturen gegeben hat. Es gibt eine Vielzahl von Taten, die nicht nur von staatlicher Seite bestraft und verfolgt werden sollen, sondern auch darüber hinaus aufzuarbeiten sind. Auch wo sie verjährt sind, muss moralisch und verantwortungsmäßig aufgearbeitet werden. Daran besteht überhaupt kein Zweifel.

Allerdings scheint mir zurzeit in der Öffentlichkeit teilweise eine Generalabrechnung mit der katholischen Kirche stattzufinden. Da muss man nur diese große Aufregung und Empörung betrachten, auch zum Beispiel im Zusammenhang mit der Kolumne, die ich im SPIEGEL geschrieben habe: Ich habe über 1.000 Leserkommentare bekommen, von denen 900 wütende Proteste waren, die weit über das hinausgehen, worum es eigentlich geht. Wenn man das mit dem organisierten Sport, mit Schulen, oder mit psychotherapeutischen Praxen und vielen anderen Strukturen, in denen ja auch massenhaft Missbrauch vorgekommen ist, vergleicht, muss man schon sagen, dass einen das etwas wundert.

Das hat für mich einen gewissen Sündenbock-Charakter. Man sucht sich einen raus, der sich nicht besonders geschickt und sehr defensiv verteidigt: ein scheinbar großer Bösewicht, und der anderen Seite lauter Ohnmächtige und Opfervertreter. Da bietet es sich natürlich an zu denken: So sind sie halt, die Kleriker, jetzt wird alles wieder vertuscht. Und das finde ich weit übertrieben.

DOMRADIO.DE: Nun hat aber die Kirche ihren Markenkern in Moral und Ethik. Das unterscheidet sie vielleicht von anderen Institutionen. Deshalb wird da besonders hingeschaut.

Fischer: Da haben Sie vollkommen Recht. Aber die Kirche ist nicht nur ein Moralunternehmen, das sich damit beschäftigt, Gefühle zu produzieren und aufputschen. Gerade der christliche Glaube ist ja doch in hohem Maße von einer Rationalisierung der Moral, von einer Relativierung persönlicher Schuld und Verantwortung und von einer sozialen Verantwortung getragen. Das ist der Markenkern des Christentums. Und da reicht es nicht aus, einfach nur empört zu sein und zu sagen: Jetzt müssen alle Bösewichte abgesägt werden, wir sind die Guten und die anderen sind die Bösen. Das ist ja gerade nicht der Markenkern. Vielmehr geht es darum, die Verhältnisse richtig zu sehen und dem anderen eine Chance zu geben.

Natürlich scheint es sich ungünstig zu fügen, dass die Organisation katholische Kirche mit der Aufklärung ihrer eigenen Verbrechen betraut ist. Das wird ihr jetzt wieder vorgeworfen. Aber wenn sie das nicht tun würde, wäre dies das erste, was gefordert wird. Es wird der Kirche ja gerade zu Recht vorgeworfen, das über viele Jahre oder Jahrzehnte unzureichend oder gar nicht getan zu haben.

Insoweit kann man ja doch froh sein, wenn jemand plausibel versichert: Ich habe das wirklich vor und ich tue es nach besten Kräften und Willen. Und da wird nichts verschwiegen oder vertuscht - erst recht nicht meine eigene Schuld.

Warum soll man dem nicht mal zunächst glauben und auch seinen Handlungen vertrauen? Da sind doch nicht lauter Verschwörer am Werke in Rechtsanwaltskanzleien und Universitäts-Lehrstühlen, die sich mit dem Kardinal oder dem Generalvikar verschworen haben, Verbrechen in Köln zu vertuschen. Das glaube ich nicht.

DOMRADIO.DE: Sie beschreiben in Ihrer Kolumne, wieviel "Druck im Kessel" ist. Das verselbstständigt sich medial dann natürlich auch. Dann kommen sofort Rücktritts-Rufe. Das kriegt man ja kaum noch eingefangen, oder?

Fischer: Rücktritt von was auch immer. Es treten ja die merkwürdigsten Menschen von den merkwürdigsten Ämtern zurück. Als ob das irgendetwas bewirken würde in der Sache selbst. Jetzt einfach zu sagen, es müssen so genannte personelle Konsequenzen gezogen werden, ist eine relativ hilflose Forderung, die auch einer möglichen Verantwortung dann nur sehr unzureichend gerecht wird, denke ich.

Aber Sie haben völlig Recht. So funktioniert das heute. Die Zeit-Taktung der Empörungen, der Skandalisierung ist dermaßen eng geworden, dass die Öffentlichkeit und die Medien, die diese Öffentlichkeit bedienen, mit ihren Nachrichten kaum noch Zeit haben, länger als zwei Wochen zu warten, bis mal endlich irgendwas abgeschlossen ist. Alles muss stets so aussehen, als ob es geradezu zwangsläufig auf einen Höhepunkt hinliefe und etwas ganz Spektakuläres passieren müsste.
Kaum ist das vorbei, stellt sich raus, es war völlig unwichtig. Es läuft schon der nächste Skandal. Das ist ein typisches Zeichen für diese Zeit des Internets, der ständigen, aufgeregten Kommunikation in einer unvorstellbaren Geschwindigkeit, in der jeder jederzeit über alles redet. Und das wird durch vielerlei andere Strukturen und Entwicklungen - auch durch die angespannte Lage der Pandemie – wohl noch stark beflügelt.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Dies ist ein Auszug des Gesprächs. Das komplette Interview, auch zur rechtlichen Diskussion über das Kölner Missbrauchsgutachten, finden Sie hier zum Nachhören.


Quelle:
DR