Philosoph De Candia veröffentlicht Buch zur "Dynamik des Wortes"

Die Frohe Botschaft muss ständig neu übersetzt werden

Die katholische Tradition lebt von einer ständigen Übersetzung. Gianluca de Candias Buch heißt: "Die Dynamik des Wortes". Er untersucht die fortwährende Übersetzung als Prinzip christlicher Überlieferung. Was heißt das für uns?

Autor/in:
Johannes Schröer
Symbolbild Eine Frau liest in der Bibel / © shine.graphics (shutterstock)
Symbolbild Eine Frau liest in der Bibel / © shine.graphics ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch "Die Dynamik des Wortes. Fortwährende Übersetzung als Prinzip christlicher Überlieferung" geht es darum, dass die Tradition in der Kirche nie starr war und auch heute von fortwährender Übersetzung lebt. Was heißt das für die Kirche und für Christen heute, wo viel über Reformen debattiert wird? Was bedeutet da Tradition im Übersetzungsprozess?

Prof. Gianluca De Candia (Professor für Philosophie an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie KHKT): Wir befinden uns in einer Zeit, in der von vielen Veränderungen gefordert werden. Viele Menschen fragen sich: Wann tut sich da endlich was – zum Beispiel bei der Frage, welche Rolle Frauen in der Kirche spielen dürfen? Darauf reagieren manche mit einem reflexhaften Rückgriff auf die Tradition – nach dem Motto: "Das war schon immer so". 

Die Traditionalisten betrachten alles, was sich im Laufe der Geschichte als besonders wirkungsvoll erwiesen hat, als unveränderlich und nicht verhandelbar. Doch wer genauer hinsieht, bemerkt: Die Geschichte der katholischen Theologie ist viel bewegter, als manche meinen. Viele überlieferte Ansichten entstanden als Antworten auf Fragen, die zu ihrer jeweiligen Zeit aktuell waren. 

Heute jedoch hat die Kirche in Europa ein neues Bewusstsein und steht vor neuen Fragestellungen – diese lassen sich nicht einfach beiseiteschieben oder kleinreden. Hinter dieser reaktionären Haltung steckt oft die Sorge, dass Wesentliches aus dem Glauben verloren gehen könnte. Deshalb verteidigen die Traditionalisten die gesamte Überlieferung als unantastbar, ohne genauer zu unterscheiden, was wirklich allgemeingültig ist und was vielleicht einer Relektüre unterzogen werden kann. 

DOMRADIO.DE: Aber die Offenbarung ist doch unverrückbar. Da lässt sich doch nichts weg interpretieren. Offenbarung ist Offenbarung. 

De Candia: Es gibt eine wichtige Unterscheidung, die für mein Buch zentral ist: Die Unterscheidung zwischen "Rück-Übersetzungen" und "Neu-Übersetzungen". Man muss unterscheiden: Was ist für den christlichen Glauben wirklich grundlegend und für alle verbindlich? Diese grundlegenden Glaubensaussagen kann man nur durch Rück-Übersetzungen verstehen. Das heißt, man versucht, sie wieder in ihren ursprünglichen Sinn zurückzuführen. Wir empfangen die Offenbarung immer nur durch die Deutung anderer, nicht zuletzt durch die Übersetzungsleistung der neutestamentlichen Schriften und der ersten dogmatischen Konzilien. 

Diese ausgezeichneten Formeln – zum Beispiel der Begriff "homousion" (wesensgleich) auf dem Konzil von Nizäa – zeigen uns die Richtung, in der wir die Antwort auf die Frage nach der Identität Jesus zu suchen haben. Sie haben normativen Hinweischarakter. Deshalb kann die primäre Glaubenslehre von der Theologie nur rück-übersetzt werden. Bei solchen Glaubensurteilen sind dem Versuch einer willkürlichen Interpretation des Glaubens enge Grenzen gesetzt.

DOMRADIO.DE: Sie zeigen in Ihrem Buch auf, wie sich das auf die katholische Lehrmeinung auswirken kann. Da hat es ja immer wieder Änderungen gegeben, zum Beispiel die Bewertung der Sklaverei hat sich geändert, die Haltung zur Todesstrafe, jetzt kürzlich erst von Papst Franziskus wurde sie abgeschafft, oder die Haltungen zu anderen Religionen und zur Demokratie. Da hat sich die Lehrmeinung der Kirche extrem geändert. Da gibt es also auch eine enorme Dynamik in der Deutung der Glaubensbotschaft? 

De Candia: Genau, und ich versuche da zu unterscheiden zwischen Glaubensurteilen, die die Glaubenslehre betreffen und die in einer direkten Verbindung zur Offenbarung stehen, und Urteilen, die die Kirche in der Person der Päpste auf induktive Weise, das heißt aus den Erfahrungen heraus, aufgestellt hat. Sie sind eben nicht Rück-Übersetzungen, sondern Neu-Übersetzung des Glaubens und insofern weltanschaulich imprägniert. Deswegen wurden manche davon de facto auch von späteren Päpsten wieder neu-übersetzt.

DOMRADIO.DE: Jetzt machen wir auch in der säkularen Welt viele Erfahrungen, zum Beispiel die Emanzipation der Frau. Wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, kann es so etwas, wie das "Basta", nein, die Frage sei ein für allemal entschieden, von Johannes Paul II. zur Frage, ob Frauen in der Kirche Weiheämter ausüben dürfen, gar nicht geben? 

De Candia: Bislang wird die Diskussion um Anpassungen in dieser Hinsicht häufig als eine Art "Rück-Übersetzung" geführt: Man sucht in der Geschichte des Christentums nach Präzedenzfällen, die ein kirchliches Amt von Frauen belegen. Natürlich dominieren Männerämter die lange Tradition der Kirche, doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Man könnte nämlich weniger wirkungsmächtige, aber bedeutsame Optionen heranziehen – etwa das Amt der Diakonissen in der alten Kirche oder an den alten Ritus der Äbtissinnenweihe. Solche historischen Präzedenzfälle zeigen, dass Frauen durchaus bereits in kirchliche Ämter eingebunden waren. 

Inzwischen gibt es innerhalb der theologischen Debatte auch Stimmen, die dafür plädieren, diese Frage als "Neue Übersetzung" zu behandeln. Damit würde nicht mehr allein die historische Funktion der Diakonisse im Mittelpunkt stehen, sondern grundsätzlich die Möglichkeit eines Weiheamts für Frauen in der heutigen Kirche zur Diskussion stehen.

Für eine solche Neu-Übersetzung wäre ein theologisch begründeter und moralisch getragener Glaubenskonsens innerhalb der Gesamtkirche erforderlich. Dieser Konsens müsste nicht nur unter den Bischöfen, sondern auch unter den Gläubigen bestehen. Der Papst könnte dann – auf dieser Grundlage – prinzipiell begründungstheologische Schwerpunkte verschieben oder Veränderungen vornehmen. 

DOMRADIO.DE: Was heißt das nun für das "Basta" von Johannes Paul II. Wie bewerten sie seine doch eindeutige Äußerung?

De Candia: Das sogenannte "Basta" von Johannes Paul II. wird heute als eine Art Diskussionsbremse in der theologischen Debatte wahrgenommen. Es ist aber wichtig zu sehen, dass die lehramtliche Theologie in ihrer Geschichte – wenn auch selten – durchaus Fälle kennt, in denen eine als definitiv erklärte Lehre später revidiert oder neu interpretiert wurde. Beispiele dafür sind die Gültigkeit des Weihesakramentes, die in der Apostolischen Konstitution "Sacramentum ordinis" von 1947 anders bewertet wurde als im Konzil von Florenz (1439), oder die Monogenismusthese (Anm.d.Red.: Die Monogenismus-These besagt, dass die gesamte Menschheit von einem einzigen ersten Menschenpaar abstammt) aus der Enzyklika "Humani generis" von 1950, die das Lehramt heute nicht mehr vertritt. In diesem Sinne könnte ein neuer Papst unter bestimmten Bedingungen dieses "Basta" von Johannes Paul II. auch wieder aufheben. 

Die entscheidende Frage dabei ist, dass die Sensibilität für Reformen zu diesem Thema in den einzelnen Ortskirchen weltweit unterschiedlich schnell entwickelt – oder manchmal ganz ausbleibt. Und da spielt Synodalität eine große Rolle. Und in der Tat, mein Buch schließt mit dem Versuch einer Beschreibung, was dialogische Synodalität ist. Das ist kein offener Dialog. Synodalität ist vielmehr eine besondere Form des Dialogischen. 

DOMRADIO.DE: Stichwort “Zeitgeist”. Oft heißt es, dass die Kirche zu sehr auf “Zeitgemäßigkeit” reagiert. Ist das so? 

De Candia: "Zeitgemäßigkeit" ist ein Kontextbegriff – sie hängt stark vom jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld ab. Dennoch wird häufig das, was gerade in Nordeuropa als "zeitgemäß" gilt, zum Maßstab für die Reform der gesamten Weltkirche erhoben. Dabei übersieht man leicht, dass oft die eigene nationalistische Analysekategorien den Ausschlag geben. Das hat zur Folge, dass auch außereuropäische Ortskirchen sich diesem Maßstab beugen müssen. Ironischerweise erweisen sich am Ende alle als "Traditionalisten", wenn es darum geht, die jeweils eigene "Tradition" zu verteidigen.

Aus theologischer Sicht ist diese Haltung genauso wenig überzeugend wie die der reaktionären Katholiken, denn die Vergangenheit hat im Katholizismus einen normativen Anspruch an uns: Wir können die katholische Problemlösungsgeschichte nicht einfach neu erfinden. Das wäre so, als würde man den Witz über die sowjetische Enzyklopädie ernst nehmen, mit jeder neuen Auflage die gesamte Vergangenheit einfach umschreiben zu wollen.

Hier stellt sich die Frage: Wie lässt sich ein katholisches Traditionsverständnis entwickeln, bei dem Veränderungen keine reine Willkür sind und Kontinuität im katholischen Glauben keine Fiktion bleibt? Die Frage ist spannend – und sie ist gerade in Nordeuropa unsere zentrale Frage. Hier kann die Theologie einen wichtigen Beitrag leisten. Sie muss untersuchen: Was ist das endgültig Bewahrenswerte? Warum und wann erfordert Treue auch Veränderung? Wo ergeben sich Chancen, zu neuen Einsichten zu gelangen? Genau an diesem Punkt setzt mein Buch an. 

DOMRADIO.DE: Welche Dynamik das haben kann, sehen wir auch in der jüngeren Vergangenheit mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Es war enorm, was die Kirche da plötzlich an Änderungen auf den Weg gebracht hat. 

De Candia: Das ist ein tolles Beispiel. Das Zweite Vatikanum hat im Grunde keine neuen Dogmen formuliert. Vielmehr ging es darum, das bestehende Glaubensbewusstsein in der Gegenwart neu zu verorten. Aber was für eine Revolution oder Reform das war! Das Zweite Vatikanum bewahrt das Bewährte und bringt zugleich ein ganz neues Kirchenbewusstsein zum Ausdruck. Die Kirche hat sich im Grunde bewusst auch mit den Augen der anderen Konfessionen und nicht-christlichen Religionen, mit den Augen der säkularen Welt gesehen. Durch diese Verschiebung der Beobachterperspektive entsteht ein neues Kirchenbewusstsein, aber auch ein neues Verständnis derselben Offenbarung.  

DOMRADIO.DE: Nun gibt es ja viele, die sagen: Ja, was redet ihr da? Die Kirche ist doch starr und stur. Es gibt die Unfehlbarkeit des Papstes und was der "ex kathedra" verkündet, ist in Stein gemeißelt. 

De Candia: Die Irrtumslosigkeit bezieht sich offenbar nicht auf die Privatperson des Papstes. Es gibt einen unfehlbaren Kern des Glaubens der gesamten Kirche, insofern sie nicht im Widerspruch zur Bibel oder zur apostolischen Tradition steht. Der Papst verkündet also nicht willkürlich neue Lehren, sondern stellt fest, was im Glauben der Kirche bereits angelegt ist. 

DOMRADIO.DE: Also, man dürfte zum Beispiel Gott nie leugnen oder nie leugnen, dass Jesus Gottes Sohn ist. Das steht fest, das ist für die Frohe Botschaft unverhandelbar.  

De Candia: Das ist ein Beispiel für eine wesentliche Glaubensüberzeugung, die nur rückübersetzt werden kann, weil die Offenbarung ja abgeschlossen ist. Das kirchliche Verständnis davon und die Art und Weise, wie das Evangelium in der jeweiligen Zeit und Ortskirche neu-übersetzt wird, sind jedoch nicht abgeschlossen. Vergangene und gegenwärtige Erfahrungen treten dabei ständig in einen lebendigen Dialog miteinander. 

Das "Heute" und "Hier" ist dabei genauso bedeutsam wie das "Damals" und "Dort". Überlieferung wächst auch durch das beständige Verstehen dessen, was geschieht. Dadurch gewinnt die Tradition an Autorität. Wer meint, hier sei bereits alles gesagt und alle Antworten lägen fix und fertig vor, übersieht, dass die christliche Tradition ein lebendiger Lernprozess des Wortes ist.

Das Interview führte Johannes Schröer.

Quelle:
DR

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