Deutscher Priester ordnet kritische Situation in Israel ein

"Die Zeche zahlen die Zivilisten"

Die radikalislamische Hamas hat Israel überfallen, Hunderte getötet und Geiseln genommen. Israel mobilisiert seine Armee und fliegt Luftschläge in Gaza. Der Priester Stephan Wahl schildert seine Wahrnehmung der Situation in Jerusalem.

Israelis inspizieren die Trümmer eines Gebäudes, einen Tag nachdem es von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde / © Oded Balilty/AP (dpa)
Israelis inspizieren die Trümmer eines Gebäudes, einen Tag nachdem es von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde / © Oded Balilty/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Seit gestern greift die Hamas Israel mit Raketen an und islamistische Kämpfer sind ins Land eingedrungen. Es gab Entführungen, viele Tote und Verletzte. Wieviel bekommen Sie davon in Jerusalem mit?

Msgr. Stephan Wahl (privat)
Msgr. Stephan Wahl / ( privat )

Msgr. Stephan Wahl (Autor und Priester in Jerusalem): Das war natürlich gestern Morgen ein Schock. Wir haben eine Warn-App, die sich meldet, wenn Raketenangriffe aus dem Gazastreifen abgefeuert werden. Das passiert häufiger. Im ersten Moment dachten wir, jetzt kommen wieder einige Raketen, dann gibt es eine militärische Gegenaktion und dann war es das.

Aber es gab den ganzen Tag und die ganze Nacht Raketenbeschuss. Ich bin einigermaßen sicher, weil ich in Ostjerusalem lebe, aber gestern habe ich zum ersten Mal die Sirenen aus dem Westteil der Stadt und aus den Siedlungen gehört, ich habe am Himmel gesehen, wie Raketen abgefangen wurden und die Detonationen gespürt.

Gleichzeitig habe ich hier in unserer Straße, die in einem arabischen Stadtteil liegt, Autokorsos und Hupkonzerte beobachtet, die das alles eher beklatscht haben. Aber das waren Einzelne, das muss man ja auch mal sagen: Die Hamas repräsentiert nicht die Mehrheit der Palästinenser.

Das ist eigentlich eine kleine Entscheider-Gruppe, die ein ganzes Volk quasi in die Irre führt. Darum halte ich es auch für problematisch, wenn jetzt deutsche Politiker sagen, man müsse das Geld für die Palästinenser streichen. Das ist blöder populistischer Unsinn, weil man damit nur die Extremisten fördert.

Msgr. Stephan Wahl

"Ich glaube, das kam für alle überraschend, auch für die Menschen im Gazastreifen."

DOMRADIO.DE: Es heißt, der Angriff sei für Israelische Sicherheitskräfte überraschend gekommen. In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Proteste und gewaltsame Auseinandersetzungen auf Seiten der Palästinenser. Sie wohnen in Ostjerusalem – haben Sie mitbekommen, dass sich die Situation zuspitzt?

Wahl: Ich glaube, das kam für alle überraschend, auch für die Menschen im Gazastreifen. Es ist mir ein Rätsel, warum der israelische Geheimdienst das nicht vorhergesehen hat, das wird sicher auch noch ein politisches Nachspiel haben.

Aber es hatte sich in den letzten Wochen einiges zugespitzt, es gab im Westjordanland Unruhen und Tote. Und vor ein paar Tagen die Konfrontation an der Al-Aksa-Moschee, da sind die Palästinenser immer sehr empfindlich, wenn diese von Nicht-Muslimen betreten wird. Und es ist kein Geheimnis, dass die Rechtsextremen aus der israelischen Regierung auf Provokation aus sind. Darum schaukelt sich das hier immer wieder hoch.

Der lateinische Patriarch von Jerusalem hat sich gestern sehr deutlich geäußert: Er hat gesagt, dass die Aktion der Hamas die Spaltung zwischen den palästinensischen und den israelischen Familien noch verstärken wird und die Aussicht auf Stabilität jetzt mehr und mehr zerstört wird.

DOMADIO.DE: Der Angriff fand fast genau zum 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges statt, als Israel 1973 – auch an einem Feiertag – überraschend von seinen arabischen Nachbarn überfallen wurde – ist das ein Zufall?

Wahl: Nein, ich glaube, der Jahrestag war ganz gezielt gewählt. Gestern war "Simchat Thora", das Ende des jüdischen Laubhüttenfestes, das ist ein fröhliches Fest: Da tanzen die Orthodoxen mit der Thora-Rolle und Kinder bekommen kleine Geschenke, eigentlich ein wunderschöner Abschluss von Sukkot.

Genau an diesem Tag haben die Islamisten zugeschlagen, das ist schon sehr perfide und war sicherlich genau kalkuliert.

DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Erklärung dafür, wie die Hamas jetzt an diese große Zahl von Raketen kommt, wenn der Gazastreifen doch abgeriegelt ist?

Wahl: Das wüsste ich auch mal gerne. Dass die Hamas selber Raketen im Gazastreifen herstellen kann, ist kein Geheimnis, aber diese große Menge kommt vermutlich teilweise aus dem Iran.

Raketen werden von militanten Palästinensern in Gaza auf Israel abgefeuert. Die islamistische Hamas hat einen großangelegten Überraschungsangriff auf Israel gestartet. / © Mahmoud Issa/Quds Net News via ZUMA Press (dpa)
Raketen werden von militanten Palästinensern in Gaza auf Israel abgefeuert. Die islamistische Hamas hat einen großangelegten Überraschungsangriff auf Israel gestartet. / © Mahmoud Issa/Quds Net News via ZUMA Press ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie kümmern sich um die Pilger in Jerusalem und stehen mit den deutschsprachigen Gemeinden im engen Austausch: Wie ergeht es denen jetzt?

Wahl: Wir sind innerhalb der deutschen Community gut vernetzt. Es gibt hier ein ökumenisches Studienjahr in der Dormitio, die gerade ausgerechnet eine Woche in der Negev-Wüste verbringen. Von denen habe ich gerade eine Nachricht bekommen, dass es denen gut geht und dass sie nicht betroffen sind.

Aber manchmal ist es ganz nah: Der Sohn eines Freundes ist seit letzter Woche zum Studium hier im Land, er lebt auch in Ostjerusalem, aber gestern war er in Tel Aviv und ausgerechnet 20 Meter neben ihm ist eine Rakete eingeschlagen. Man steckt nicht drin, ich werde auf jeden Fall jetzt mehr zu Hause bleiben und abwarten, was geschieht.

Msgr. Stephan Wahl

"Die Zeche zahlen immer diejenigen, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben."

DOMRADIO: Sie haben auf Ihrer Facebook-Seite den "Psalm eines zivilen Kriegsopfers" gepostet. Was ist Ihre Botschaft?

Wahl: Dass den Preis für so etwas immer die Unschuldigen tragen. Es sind bereits über 600 Israelis getötet worden und das sind unschuldige Menschen, die niedergeschossen wurden von wild gewordenen palästinensischen Terroristen, die offenbar regelrechte Mordlust hatten.

Das Spezifische an dem aktuellen Konflikt ist, dass Hamas-Kämpfer das Land infiltriert haben und es sollen Hunderte sein. Ich habe die Sorge, dass die nicht nur im Grenzgebiet unterwegs sind, sondern sich im ganzen Land verteilen und dass wir in den nächsten Tagen und Wochen mit Attentaten rechnen müssen. Wir hatten in den letzten Wochen drei Messerattacken und ich mache mir Sorgen, dass das noch mehr werden.

Auf israelische Seite wird es jetzt militärische Gegenschläge geben und auch im Gazastreifen werden unschuldige Zivilisten getötet, die eigentlich nichts mit der Hamas zu tun haben. Die Zeche zahlen immer diejenigen, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben.

DOMRADIO.DE: Seit Monaten haben viele Israelis gegen die umstrittene Justizreform von Benjamin Netanjahu protestiert – inwiefern gerät das jetzt in den Hintergrund?

Wahl: Man merkt natürlich ganz klar: Das Land rückt jetzt zusammen. Man hat die für gestern Abend geplanten Demonstrationen abgesagt. Der Oppositionsführer hat sich ganz klar zur Regierung bekannt. Es gibt jetzt Überlegungen zur Bildung einer Einheitsregierung, an der auch die Opposition beteiligt wird.

Es ist fast aberwitzig, denn in den vergangenen Wochen haben die Reservisten sich immer wieder aus Protest gegen die sogenannte Justizreform geweigert, eingezogen zu werden, wurden von den Rechten in der Regierung mit den übelsten Worten beschimpft und geschmäht.

Aber die Reservisten waren diejenigen, die gestern als erste wieder in den Kasernen waren und gesagt haben: "Wir lassen das alles beiseite, wir müssen jetzt dieses Land verteidigen." Wie das weitergeht, ist offen, aber es ist völlig klar, dass diese inkompetente Regierung unter Netanjahu das Feuer geschürt hat, das jetzt explodiert ist.

DOMRADIO.DE: Die deutsche Botschaft hat Sie und alle Deutschen aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Würden Sie auch zurück nach Deutschland fliegen oder steht das für Sie gerade nicht zur Debatte?

Wahl: Die Frage habe ich schon öfter gestellt bekommen. Ich bin seit 2018 hier und ich stelle mir die Frage im Moment nicht. Wenn die Botschaft uns irgendwann auffordert zu gehen, müsste ich drüber nachdenken, ob ich hier auf eigene Verantwortung bleibe.

Aber ich lebe hier mit den Leuten in Friedenszeiten zusammen und in Kriegszeiten können die auch nicht weg. Deswegen bleibe ich auch hier. Ich habe ein großes Vorbild: Meine Mutter hat in den 1990er Jahren hier gelebt, sie hat den Golfkrieg hier miterlebt und ist auch nicht nach Deutschland zurück gegangen.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Israelisches Sicherheitskabinett erklärt offiziell Kriegszustand

Israel befindet sich jetzt offiziell im Krieg. Das Sicherheitskabinett der israelischen Regierung hat Samstagnacht den Kriegszustand und die damit verbundene Einleitung militärischer Maßnahmen gebilligt, wie das israelische Regierungspressebüro am Sonntagnachmittag mitteilte.

Es beruft sich dabei auf Artikel 40 des israelischen Grundgesetzes. Dieses legt fest, dass der Beginn eines Kriegs oder entsprechender militärischer Operationen nur aufgrund eines Regierungsbeschlusses erfolgen dürfen.

Ein Gesamtbild der Zerstörung nach dem tödlichen Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Sderot am zweiten Tag des andauernden Konflikts zwischen Israel und der militanten palästinensischen Gruppe Hamas / © Ilia Yefimovich (dpa)
Ein Gesamtbild der Zerstörung nach dem tödlichen Angriff auf eine Polizeistation in der Stadt Sderot am zweiten Tag des andauernden Konflikts zwischen Israel und der militanten palästinensischen Gruppe Hamas / © Ilia Yefimovich ( dpa )
Quelle:
DR