Syrisch-katholischer Patriarch Younan zur Lage seiner Kirche

"Der Westen hat uns verraten"

Der Westen habe die Christen des Nahen Ostens verlassen und verraten. Der syrisch-katholische Patriarch Ignace Youssif III. Younan ruft dazu auf, den Völkern im Orient und auch den Muslimen bei einer echten Versöhnung zu helfen.

Autor/in:
Andrea Krogmann
Ignace Youssif III. Younan / © Andrea Krogmann (KNA)
Ignace Youssif III. Younan / © Andrea Krogmann ( KNA )

Younan hält sich derzeit zu einem Besuch im Heiligen Land auf, wo er unter anderem den neuen syrisch-katholischen Bischof von Jerusalem und Patriarchalvikar für Jerusalem, das heilige Land und Jordanien, Yacoub Ephrem Semaan, in sein Amt einsetzte.

Der katholischen Ostkirche gehören laut der österreichischen Stiftung Pro Oriente rund 160.000 Gläubige an, die vor den jüngsten Auswanderungswellen vor allem in Syrien, Irak und dem Libanon lebten. Liturgiesprache ist Syrisch-Aramäisch.

KNA: Eure Seligkeit, welchen Platz haben syrisch-katholische Christen im Heiligen Land?

Ignace Youssif III. Younan (Syrisch-katholischer Patriarch): Während die syrisch-orthodoxe Kirche wesentlich länger im Heiligen Land ist, sind wir rund 100 Jahre präsent, nachdem Flüchtlinge aus Syrien, der Türkei und dem Irak sich ansiedelten. Wir sind eine sehr kleine Kirche, mit einer eigenen Tradition und liturgischen Sprache, die versucht, am christlichen Mosaik des Heiligen Landes teilzunehmen und den Evangelien und dem apostolischen Erbe treu zu bleiben. Bei meinen Besuchen in den anderen Kirchen habe ich aber gesehen, dass uns alle die gleichen Fragen bewegen, vor allem die der Abwanderung. Der Exodus der Christen aus Nahost hält an.

KNA: Wie geht es Ihrer Kirche in diesen Tagen?

Younan: Wir sind eine Kirche der Zeugen und Märtyrer. Verhältnismäßig sind wir unter allen Christen am stärksten getroffen. Seit Beginn des Terrors ist es zu einer Massenabwanderung unserer Christen gekommen. Wir wurden auf dramatische Weise reduziert, wie auch andere Kirchen. Mindestens 60 Prozent sind abgewandert. Besonders stark getroffen ist die Ninive-Ebene im Nordirak. In ihrer größten Stadt Karakosch leben mehrheitlich syrisch-katholische Christen. Zwar hat sich die Situation im Irak mittlerweile etwas beruhigt. Rund 60 Prozent der Einwohner sind nach Karakosch zurückgekehrt. Aber stabil ist die Lage nicht, und die Jungen verlieren das Vertrauen in die Zukunft. Kurz: Unsere Kirche befindet sich - wie andere auch - in einer beklagenswerten Situation.

KNA: Und die Lage in den anderen Ländern?

Younan: Im Libanon wird es immer dramatischer. Keiner hat mit einer solchen Lage gerechnet. Die Währung ist auf ein Zwölftel ihres Wertes gefallen. Auch in Syrien wurde unsere Kirche hart getroffen. Im Nordosten um Hasakeh etwa kämpfen Kurden gegen Regierungstruppen, unterstützt durch Amerikaner und Europäer. Die Türken haben der Stadt das Wasser abgedreht, seit einem Monat gibt es kein Trinkwasser, und keiner berichtet darüber. Noch immer sind Terrorgruppen wie der Islamische Staat präsent. Unser Patriarchalvikar vor Ort spricht von einer sehr dramatischen Lage. Lebensmittel werden immer teurer, es gibt keinen Strom, keinen Treibstoff. Die größte Herausforderung wird sein, die Jugend davon zu überzeugen, in ihrer Heimat zu bleiben.

KNA: Haben Sie Ideen, wie?

Younan: Ideen haben keinen Wert mehr! Die Jugend glaubt nicht an Worte, Ideen und Programme. Sie will Sicherheit und eine Zukunft. Wir können ihnen sagen, dass wir für sie beten, damit sie stark und verwurzelt bleiben. Wir können Familien nach unseren besten Möglichkeiten humanitäre Hilfe anbieten. Wie jedoch die Zukunft dieser Christen sein wird, weiß Gott allein.

KNA: Woher schöpfen Sie Ihre Hoffnung?

Younan: Jesus ist unsere Hoffnung und Maria unsere Beschützerin. Wir laden unsere Gläubigen, insbesondere die Jugend, ein, wider jede Hoffnung zu vertrauen. Das ist nicht leicht. Ich habe immer gesagt, wir Christen des Orients sind wie der heilige Johannes in der Wüste durch den Westen verlassen worden, ja sogar verraten, weil wir weder zahlenmäßig an die Muslime herankommen, unter denen wir leben noch finanzielle Ressourcen haben. Wir stellen auch keine terroristische Bedrohung dar. Der Westen ist bereit, gefährdete Arten zu schützen, während wir, die Erben der ersten christlichen Gemeinden, vernachlässigt, verlassen, verraten werden.

KNA: Wie kann der Westen helfen?

Younan: Europa sieht in Präsident Baschar al-Assad ein terroristisches Monster. Es ist sehr leicht zu sagen, dass es sich um ein totalitäres, despotisches Regime handelt. Ich sage: Der Westen hat nicht das Recht, das, was er seine Demokratie nennt, in eine Region zu exportieren, in der es keine Trennung zwischen Religion und Staat gibt. Die Amerikaner rufen nach Sanktionen aufgrund von Fotos, die Folterszenen durch die syrische Armee zeigen. Was kann man tun in einem solchen Krieg, in dem es so viele Gräueltaten von allen Seiten gibt? In den Kriegen, die ihr in Europa hattet, gab es so viele Scheußlichkeiten - man hätte gar nicht über alle berichten können. Hier kommt man mit ein paar Fotos und urteilt danach. Die westlichen Länder müssen aufhören, das zu sprechen, was man politisch korrekte Sprache nennt. Sie müssen die Wahrheit sprechen. Sie müssen diesen Völkern helfen, sich wahrhaft zu versöhnen, vor allem die Muslime untereinander, Sunniten und Schiiten, damit sie zu einer Stabilität und einem dauerhaften Frieden kommen können.

KNA: Ließe der Islam bei einer solchen sunnitisch-schiitischen Versöhnung noch Raum für Christen?

Younan: Wir müssen unseren muslimischen Brüdern sagen, dass wir im 21. Jahrhundert leben und nicht mehr im 7. Jahrhundert. Ihr seid eingeladen, die Schriften, die ihr als heilig anseht, in einer menschlicheren Weise zu interpretieren und Nicht-Muslime nicht zu diskriminieren. Und vor allem: nicht eure Jugend zu lehren, die Verse wörtlich zu nehmen. Es gibt Verse im Koran, die tolerant sind. Warum nicht diese Verse lehren und jene beiseitelassen, die von Gewalt sprechen? Warum nicht die Jugend die Tugend lehren, die sie dazu bringt, den anderen anzunehmen, wie er ist?

Das Interview führte Andrea Krogmann.


Quelle:
KNA