Braucht es einen Mindestlohn für Behindertenwerkstätten?

"Das Thema ist komplex"

99 Euro im Monat ist das Minimum, das ein Mensch mit Behinderung in einer Werkstatt im Moment verdienen kann. Kritiker bezeichnen das als "Hungerlohn". Die Caritas sagt, das Thema ist komplizierter, als es auf den ersten Blick wirkt.

Arbeit in einer Behindertenwerkstatt / © Harald Oppitz (KNA)
Arbeit in einer Behindertenwerkstatt / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Lukas Krämer, ein YouTuber mit Behinderung, kritisiert in einem neuen Video "Hungerlöhne", die in Werkstätten für Menschen mit Behinderung gezahlt würden, obwohl seit längerem ja schon im allgemeinen ein gesetzlicher Mindestlohn gilt. Ist das in Ihren Augen ein berechtigtes Anliegen, ein Mindestlohn in Behindertenwerkstätten?

Christian Germing (Vorstand des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld und Vorsitzender des Ausschusses für Teilhabe am Arbeitsleben vom Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V.): Es ist ein sehr komplexes Thema. Von daher ist es gar nicht so einfach, eine Antwort darauf zu geben. Was auf jeden Fall richtig ist - und ich glaube, da kann ich auch einen Herr Krämer verstehen in seiner Perspektive - ist, dass es immer noch viel zu wenig gelingt, auch Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren und auch dort eine Beschäftigung zu bieten.

DOMRADIO.DE: Gründe für den Mindestlohn sind unter anderem der Schutz vor Ausbeutung, die Sicherung der Grundbedürfnisse und die Ermöglichung eines gewissen Lebensstandards. Müsste man nicht da sagen, dass das genauso für Menschen mit Behinderungen gilt?

Germing: Grundsätzlich auf jeden Fall. Dieses Thema diskutieren wir schon lange. Wir haben ja seit 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert in Deutschland und in den Folgejahren ja auch ganz viel diskutiert über diese Frage, wie es eben auch gelingt, die Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderung zu ermöglichen. Das ist ja auch ein Ziel der UN-Konvention eben auch Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, sich selbst den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Das war eine große Diskussion, auch im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes, als man die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt hat in Deutschland.

Gerade auch die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, Menschen zu beschäftigen, hat auch einige neue Instrumente geschaffen, wie ein Budget für Arbeit. Genau mit dieser Idee, dass Menschen mit Behinderung die Möglichkeit haben sollen, auch zu arbeiten, einen vollen Lohn zu verdienen. Ich finde es aber wichtig, auch in Werkstätten für behinderte Menschen zu schauen, mit welchen Personen wir es zu tun haben. Wir haben in Deutschland knapp fünf Millionen Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung, also mit einem Grad der Behinderung von mehr als 50 Prozent, die im erwerbsfähigen Alter sind.

Wenn wir über Werkstätten für behinderte Menschen sprechen, dann haben wir eine Personengruppe von rund 300.000 Menschen in Deutschland, die in Werkstätten arbeiten und aufgrund der gesetzlichen Definition mit einer sogenannten wesentlichen Behinderung so stark in ihrer Teilhabe eingeschränkt ist, dass diese Gruppe, und das ist die Voraussetzung für die Aufnahme in eine Werkstatt, im allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung steht.

Aber auch diese Personengruppe ist natürlich sehr heterogen. Auch da haben wir eine große Bandbreite und wir haben Personen wie auch Lukas Krämer, die sicherlich auch an der Grenze zum allgemeinen Arbeitsmarkt sind und wie man auch sieht, dort eine Perspektive gefunden haben. Aber wir haben auch Personen, auch gerade zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, mit wirklich hohem Unterstützungsbedarf, mit komplexen Behinderungen, mit schwersten Spastiken, mit starken geistigen Behinderungen, die eben auch auf ein umfassendes System von Unterstützung bis hin zur Pflege angewiesen sind. Da glauben wir auch, dass Werkstätten eben auch ein geeigneter Ort dafür sind.

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie würden differenziert schauen, wer in Behindertenwerkstätten was kann und dann vielleicht auch mehr zahlen?

Germing: Genau, das machen wir heute schon. Das ist gesetzlich sogar so geregelt. Es gibt einen sogenannten Grundbetrag, der jedem Menschen in der Werkstatt zu zahlen ist. Das ist eben auch aktuell etwas, was erhöht wird. Wir sind aktuell bei 99 Euro im Monat. Das ist in der Tat nicht viel Geld, aber das ist das, was jeder Mensch bekommt. Darüber hinaus bekommt jeder Mensch in der Werkstatt das sogenannte Arbeitsförderungsentgeld. Das ist eine staatliche Unterstützungsleistung von 52 Euro im Monat.

Und dann - und das ist eben das Entscheidende - ist es auch tatsächlich abhängig von der Leistungsfähigkeit der Menschen, wo eben ein sogenannter Steigerungsbetrag gezahlt wird. Auch da ist die Bandbreite sehr unterschiedlich. Im Mittel kann man sagen, zahlen wir in Deutschland einen Steigerungsbetrag zuletzt von 98 Euro im Monat. Da gibt es Menschen, die verdienen auch überhaupt keinen Steigerungsbetrag, weil sie eben so stark eingeschränkt sind, dass sie auch kaum arbeiten können.

Aber es gibt auch durchaus Personen, die deutlich mehr bekommen können. Ich kann die Kritik verstehen, dass Menschen auch in Werkstätten mehr verdienen sollten. Ich glaube, das ist eine große Herausforderung. Von daher gibt es einen Beschluss, auch des alten Bundestages noch, der eben auch den Gesetzgeber, das Bundesministerium, aufgefordert hat, hier an einem Forschungsvorhaben für eine Reform des Entgeldsystems zu arbeiten und da Reformvorschläge vorzulegen. Das soll im Jahr 2023 passieren.

DOMRADIO.DE: Menschen mit Behinderung bekommen auch oft soziale Unterstützung. Weil sie nur einen gewissermaßen symbolischen Betrag verdienen, muss der Staat in die Grundsicherung investieren. Wäre es eigentlich nicht viel einfacher und für alle besser und auch mit viel weniger Bürokratie verbunden, wenn man einfach sagt, dass jeder den Mindestlohn bekommt und von seiner Arbeit leben kann, aber es im Gegenzug keine staatlichen Leistungen mehr braucht?

Germing: Das ist ja einer der Reformvorschläge, die auf dem Tisch liegen. Es gibt auch andere, es gibt ganz verschiedene Modelle und in der Summe ist das durchaus auch eine Option, die sinnvoll zu prüfen ist. Wobei mir ein Punkt wichtig ist. Zum einen erleben wir es heute auch immer wieder in Werkstätten, dass wir Schwierigkeiten haben, Menschen aus der Werkstatt in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln. Das hat eine Vielzahl von Hemmnissen und das ist eine große Herausforderung, dass wir vor allem Betriebe noch mehr ermutigen müssen, auch Menschen mit Behinderung eine Perspektive zu geben.

Wir klagen in allen Bereichen über Fachkräftemangel. Ja, dann müssen wir sagen Menschen mit Behinderung haben vielleicht nicht immer diese Leistungsfähigkeit. Aber ich glaube, das ist genau das, was wir in den Werkstätten ja können. Denn wir sind in der Lage, mit den Menschen gemeinsam zu arbeiten. Was sind eigentlich ihre Kompetenzen? Das heißt, unser Fokus richtet sich nicht zuerst auf die Frage der Behinderung, sondern wir schauen eben, was der Mensch tatsächlich kann und wie wir diese Fähigkeiten, diese Ressourcen nutzbar machen können, um ihn auch in Arbeitsprozesse einzubinden.

Das wünsche ich mir noch viel mehr auch von Arbeitgebern, dass sie genau diese Fähigkeiten sehen und bereit sind, da einen gemeinsamen Weg zu gehen. Dann würde auch viel mehr gelingen. Was uns nicht passieren darf, ist, dass wir sozusagen ein Entgeltsystem in Werkstätten haben, was diesen Übergang noch mal schwieriger macht. Wir erleben das heute schon manchmal, dass Menschen, die aus einer Werkstatt wechseln, sich tatsächlich finanziell schlechter stellen als sie in der Werkstatt waren, weil sie eben Grundsicherungsleistungen bekommen. Sie bekommen häufig, wenn sie auch längere Zeit in einer Werkstatt sind, Ansprüche auf Erwerbsminderungsrente, die dann zum Teil durchaus aber auch wieder angerechnet werden kann, wenn man in den allgemeinen Arbeitsmarkt wechselt.

DOMRADIO.DE: Wie müsste denn so ein inklusiver Arbeitsmarkt aussehen, damit Menschen mit Behinderungen da weder unter- noch überfordert werden? Was müsste da geschehen?

Germing: Ich glaube einiges. Es sind sicherlich zwei große Themen. Ich finde ein wichtiges Thema ist sicherlich die ganz klassische Barrierefreiheit. Das heißt, wir haben natürlich auch viele Menschen, die körperliche Beeinträchtigungen haben. Das ist häufig etwas, woran es schon scheitert. Haben wir vor Ort eine Toilette, die geeignet ist, haben wir einen barrierefreien Zugang zu den Gebäuden?

Ich bin hier in meinem Verband im ländlichen Bereich tätig. Wir erleben große Themen im Bereich der Mobilität, weil Menschen mit Behinderung gar nicht irgendwo anders hinkommen, weil es keinen ÖPNV gibt. Autofahren können viele tatsächlich nicht. Wie gelingt das? Das ist so ein großer Teil. Ich finde aber eigentlich fast noch wichtiger ist diese Frage zum Abbauen von Barrieren im Kopf.

Das heißt, sich wirklich vorurteilsfrei mit einem Menschen zu beschäftigen, mit der Frage "Was kann er?" Und nicht zuerst seine Behinderung zu sehen, die man erkennt, weil er beispielsweise körperlich beeinträchtigt ist. Oder seine geistige Behinderung, weil er eben da intellektuell nicht mithalten kann oder seine psychische Erkrankung, seine Störungen, sondern wirklich auch zu gucken, was kann dieser Mensch mitbringen. Und das ist, glaube ich, eine Voraussetzung, die wir noch viel mehr in der Gesellschaft brauchen.

Das Interview führte Hannah Krewer.


Quelle:
DR