DOMRADIO.DE: Herr Burtscher, wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Stefan Burtscher (Pastoralreferent in Köln-Mitte und Obdachlosenseelsorger): Es gibt ganz viele Facetten von Gott, aus denen ich meine Vorstellung von ihm zusammensetze. Da gibt es nicht das eine Gottesbild, wie es sich in den biblischen Erzählungen zeigt. Für mich gibt es den tröstenden Gott, den Gott, der Halt gibt, der aufbaut, der mitgeht durchs Leben, es mitträgt. In meiner Vorstellung sammeln sich alle Attribute von Gott. Im Koran gibt es eine Auflistung der 99 schönsten Gottesnamen, während beim 100. eine Leerstelle ist, was ein Zeichen dafür ist, dass sich Gott nicht auf Begriffe festnageln lässt und er sich immer nochmals anders zeigen kann, als ich ihn mir ausdenke. Ikonografische Bilder sind da für mich eher ein Stück weit Stellvertreter, die mir helfen – gerade auch im Gebet – ein Gegenüber zu haben. Aber eigentlich ist Gott für mich noch einmal viel mehr und gleichzeitig vielleicht auch viel weniger. Der Theologe John Caputo aus den USA hat mir da sehr weitergeholfen, wenn er davon spricht, dass Gott ein Ereignis ist, das ins Leben hineinpassiert, das ich nicht machen und auch nicht festhalten kann. Es geschieht da, wo sich Beziehung mit Gott ereignet. Und das macht meinen Glauben aus: dass ich offen dafür bin, Gott in meinem Leben einen Platz zu geben, um ihm begegnen zu können.
Im Verlauf meines Theologiestudiums in Innsbruck habe ich von verschiedenen, dort lehrenden Jesuiten sehr viel von der Ignatianischen Haltung mitbekommen, Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden, aufmerksam zu sein und eine breite Vorstellung von Gott zu haben, die über eine intellektuelle theologische Auseinandersetzung hinausgeht. Konkretisiert hat sich das für mich in zwei Persönlichkeiten, die für mein Glaubensleben ein starker Impuls sind: der südamerikanische Befreiungstheologe Leonardo Boff und die Mystikerin Madeleine Delbrêl, die beide für eine Spiritualität des Alltags stehen. Mitten im Leben Gott zu finden, nennt Delbrêl eine "spirituelle Tiefenbohrung". Sie sagt, dass nichts zu klein oder zu unbedeutend ist, als dass es nicht auf Gott verweisen könnte. Leonardo Boff geht noch weiter und schreibt ganz alltäglichen Dingen potentiell sakramentalen Charakter zu. So beschreibt er den Wasserbecher, der seit Jahrzehnten im Familienbesitz ist, genauso als Sakrament wie den Zigarettenstummel der letzten Zigarette seines Vaters. Beide Gegenstände haben für ihn eine weit größere Bedeutung, als man auf den ersten Blick vermuten könnte, und er interpretiert diese Bedeutung als Zeichen der Gegenwart, der Liebe und des Wirkens Gottes in der Welt.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Burtscher: Da reicht es schon, dass ich die Zeitung aufschlage, um ins Zweifeln und Hadern zu geraten. Angesichts der grässlichen Schlagzeilen treibt mich schon die klassische Theodizee-Frage um: Wie kann Gott so viel Leid in der Welt zulassen? Wo ist Gott im Großen wie auch im Kleinen des alltäglichen Lebens und Leidens: in den Begegnungen mit den vielen Menschen, die ich bei meiner Arbeit auf der Straße treffe; die am Leben zerbrechen, verzweifeln und Angst haben? Aber diese Frage stelle ich mir auch in meinem eigenen Glauben und Beten. Es gibt Zeiten und Situationen, in denen Gott mir verborgen ist, ich ihn mal nicht in einem Gegenüber erfahre – sondern als einen abwesenden Gott, den ich manchmal nicht erfahren darf.
Da hilft mir dann dreierlei: zum einen Formen von Gemeinschaft, insbesondere die Gemeinschaft mit Menschen auf der Straße, ihr gelebter Glaube und ihre gelebte Gottesbeziehung. Zum Beispiel, wenn sie mir von ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben erzählen, auch wenn es nicht wirklich Grund zur Hoffnung gibt, sie aber trotzdem weitermachen und auch weiter glauben. Immer wenn mir Menschen von ihren Erfahrungen mit Gott erzählen, berührt mich das zutiefst und hilft mir selber, meine eigene Funkstille mit Gott auszuhalten.
Etwas Zweites ist die Erinnerung an eigene Erfahrungen mit Gott. Um es mit einem Bild zu sagen: Man geht im Leben auf einer Brücke und sieht, dass sie von vielen Pfeilern getragen wird. Und dann geht der Weg weiter und man sieht mit einem Mal überhaupt nichts mehr und geht ins Ungewisse. Dann aber erinnere ich mich daran, dass ich in der Vergangenheit schon oft getragen wurde, auch wenn ich es im konkreten Moment nicht gespürt habe.
Ein Drittes: Gerade auch dann zu beten versuchen, wenn ich diesen Gott infrage stelle, mich mit ihm schwer tue und er sich mir entzieht. Dann versuche ich, mit genau diesem abwesenden Gott als Gegenüber in Kontakt zu sein. Es gibt ja die große Tradition der Psalmen, auch die der Klagepsalmen, in denen die Gottesferne besungen wird. Das bedeutet nichts anderes, als dass Gott eben nicht nur als ein Gegenüber in den guten Zeiten meines Lebens da ist, sondern auch in seiner Fremdheit und Abwesenheit.
DOMRADIO.DE: Bei Ihrer Arbeit mit Menschen auf der Straße oder im "Gubbio", wo Sie obdach- und wohnungslosen Menschen religiöse und liturgische Angebote machen, geht es Ihnen immer um eine Begegnung auf Augenhöhe. Sie wollen in die Lebenswelt dieser Menschen eintreten und ihnen dadurch Teilhabe und Akzeptanz, Solidarität, Mitgefühl und Nächstenliebe vermitteln. Denn für Sie ist Kirche vor allem Gemeinschaft, Zuhören, Teilen und Begleiten. Welche Triebfeder steckt dahinter, und wie sehr leitet Sie dabei Ihr katholischer Kompass?
Burtscher: Das hat mit meiner Biografie zu tun. Ich stamme aus einem kleinen Ort in Österreich. Das Thema Obdachlosigkeit existiert da eigentlich nicht. Während meines Studiums hatte ich dann eine Sinnkrise und habe mich gefragt: Wo ist mein Platz im Leben? Wozu mache ich das eigentlich alles? Ist es nicht sinnvoller, statt in der Bibliothek zu sitzen und zu lesen, für andere, die nichts zu essen haben, ein Butterbrot zu schmieren? Bei Straßenexerzitien hier in Köln bin ich genau diesen Fragen nachgegangen, und zu meiner Überraschung hat sich für mich gezeigt, dass mein Da-Sein inmitten von Menschen auf der Straße, bei denen ich in diesen Tagen immer wieder zu Gast sein durfte, für mich ein besonderer Ort der Gottesbegegnung war. Da gab es und gibt es für mich bis heute viele Zeichen der Gegenwart Gottes in dieser Welt.
Zu Gast sein bei diesen Menschen ist für mich die Triebfeder geblieben. Ich bin nicht da, um zu erzählen, wie das Leben funktioniert oder was ein guter nächster Schritt ist, sondern um ihnen mit leeren Händen zu begegnen, ohne das Bewusstsein, dass ich da etwas besser kann oder weiß. Es ist mir ein großes Bedürfnis, mich mit ihnen auf den Boden – wenn vorhanden, auch an einen Tisch – zu setzen und den Moment zu teilen, in totaler Absichts- und Planlosigkeit. In diesem Wunsch steckt für mich ganz viel von meiner eigenen Spiritualität. Da erfahre ich viel auch über mich und meine eigenen Grenzen, aber auch über die Gegenwart und Abwesenheit Gottes. Auszuhalten, dass Menschen verzweifelt sind, und ihre Ohnmacht und Ausweglosigkeit zu teilen – dieser Schmerz gehört für mich dazu.
Mein Leben mit den Menschen auf der Straße zu teilen ist die Quelle, aus der heraus ich meine Nachfolge Jesu lebe. Da bin ich ganz ich, werde aber auch mit meinen Begrenzungen konfrontiert. So wie ich die Bibel und ihre Botschaft verstehe, ist das mein Weg der Nachfolge: für andere da zu sein, mit Menschen, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, nicht gesehen werden und auf sich gestellt sind, das Leben zu teilen und ganz jesuanisch zu fragen: Was willst du, dass ich dir tue? Mein innerer Kompass ist weit weg von irgendwelchen Dogmen und einer römisch-katholischen Tradition einer High-Church, vielmehr ist er jesuanisch ausgerichtet. Das heißt, unterwegs zu sein und zu fragen: Was ist gerade dran? Was braucht der andere gerade?
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie tun, auf Ihren Glauben aus? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr eigenes Selbstverständnis, aber auch für Ihr Wirken innerhalb der Kirche und Gesellschaft?
Burtscher: Ohne meine alltäglichen Begegnungen mit wohnungs- und obdachlosen Menschen und der eigenen Anteilnahme daran, wie sie die Frage nach Gott stellen – jenseits aller Schreibtisch-Theologie, frommen Sprüche und Gebete – könnte ich mir mein eigenes Glaubensleben gar nicht mehr vorstellen. Denn dieses unerschütterliche Glaubensfundament, das ich dort spüre und das mich in seiner Einfachheit sehr berührt, überträgt sich auch auf mich. Ich habe auf dem Breslauer Platz und an so vielen anderen, auf den ersten Blick gottesfernen Orten schon so viel Glauben erfahren dürfen von Menschen, die, von außen betrachtet, so wenig Grund zum Vertrauen und zur Hoffnung hatten – und das nur, indem ich da war, ohne selbst viel zu machen – dass mich das immer wieder im Mark trifft. Diese Menschen mit ihrer tiefen Spiritualität verweisen für mich auf die Gegenwart Gottes in der Welt, und natürlich macht das auch etwas mit meinem Glauben, der viel weniger kopflastig und deutlich bodenständiger geworden ist und etwas von dem hat, was Papst Franziskus mit dem "Stallgeruch der Schafe" bezeichnet hat. Den muss man eben auch annehmen, will man dem eigenen Glauben auf der Spur bleiben.
Für mich ist der Glaube eine große Ressource. Vieles, was ich erlebe, kann ich nur glaubend ertragen. Mein Glaube ist für mich ein Ventil, eine Kraftquelle, um dieser Ohnmacht begegnen und sie aushalten zu können. Und natürlich ist er Teil meines Selbstverständnisses. Denn ich gehe zu den Menschen auf der Straße als gläubiger Mensch – ohne jede Absicht, missionieren zu wollen – und finde dort Gott. Mission heißt im Übrigen für mich nicht, dass ich Gott zu den Menschen bringe, von denen ich denke, dass sie ihn dringend benötigen, sondern dass ich Gott genau dort entdecke und etwas lerne, was mir selbst bisher noch gefehlt hat. Mit anderen Worten: Die Welt der Obdachlosigkeit ist für mich ein ganz besonderer, ein privilegierter Ort der Gottesbegegnung. Oder zugespitzt formuliert: Wenn ich obdachlosen und bedürftigen Menschen auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch, begegnen kann, begegne ich Spuren Gottes in der Welt. Nur in dieser Haltung kann ich als Seelsorger unterwegs sein. Der christliche Gott ist ja selbst ein obdachloser Gott. Auch Jesus hatte schließlich kein Zuhause. Er wurde in einer Krippe geboren, ist zeitlebens herumgezogen und war als Heimatloser immer unterwegs zu den Menschen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti