DOMRADIO.DE: Wie stellen Sie sich Gott vor, und wann wird er für Sie erfahrbar?
Dr. Peter Seul (Pfarrvikar in der Kölner Innenstadt und neu ernannter Subregens des Erzbischöflichen Priesterseminars St. Albert): Meine Vorstellung von Gott macht sich nicht allein an bestimmten Gottesbildern der Bibel und christlichen Tradition fest. Ich genieße zwar die enorme Bandbreite und Vielfalt dieser Bilder. Meine Vorstellung von Gott ist aber vor allem geprägt durch die Person Jesu von Nazaret. Er ist ja das "Bild des unsichtbaren Gottes", wie es im Kolosserbrief heißt. An ihm, an seinem Reden und Tun, kann ich verlässlich ablesen, wer und wie Gott ist. Wenn ich auf ihn schaue, sehe ich Gott, den Vater. Von ihm hat er, der Sohn, authentische Kunde gebracht. Vor allem sein Kreuz offenbart die Logik, wie Gott in der Heilsgeschichte gehandelt hat und immer wieder handelt.
Ich weiß natürlich: Ich bin ein kleiner und sterblicher Mensch, Gott aber ist allmächtig und ewig. Seine Wirklichkeit übersteigt all meine Vorstellungen von ihm. Allein die Spannung zwischen Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, wie sie in vielen Gleichnissen Jesu zu finden ist, ist für mich nur schwer auszuloten und macht es mir unmöglich, eindeutige Vorstellungen von ihm zu entwickeln. Ich weiß umgekehrt aber auch: Hätte ich eine bestimmte Vorstellung von ihm, dann wäre er nicht mehr Gott.
Erfahrbar wird Gott für mich zuerst und vor allem im Lesen und Betrachten der Heiligen Schrift. Es gibt viele Texte, die meiner Seele gut tun, weil sie von Gottes Liebe und Fürsorge sprechen, von seiner Führung und seinem unbedingten Heilswillen, von seiner großen Langmut und Geduld. Wichtig sind für mich aber auch und gerade jene Stellen, die von der Andersartigkeit, Rätselhaftigkeit, Fremdheit Gottes sprechen. Seine dunkle Seite kommt zur Sprache zum Beispiel im Geschick des Ijob. Er, der Tadellose und Gerechte, wird körperlich und seelisch gequält, dass es seinen Freunden die Sprache verschlägt. Er selbst verflucht den Tag seiner Geburt, verwünscht sein Leben. Immer rätselhafter erscheint ihm Gott, der ihm solche Schmerzen zufügt und sich weigert, ihm zu sagen, warum: Warum schenkt Gott Menschen überhaupt das Leben, wenn er es ihnen später doch nur verleidet? Gerade solche Texte zeigen mir: "Gott ist nicht nett", wie Bischof Heiner Wilmer ein Buch betitelt hat. Er ist vielmehr immer auch der ganz Andere, der Fremde und Unbegreifliche, der, den wir Menschen nie ganz verstehen und erfassen können.
Erfahrbar wird Gott für mich auch in der Natur oder – theologisch gesprochen – in der Schöpfung. Gerade der Anblick eines großen, hohen Berges löst in mir immer wieder Staunen und Ehrfurcht aus. Aber auch der Anblick einer kleinen verletzlichen Blume kann mich sprachlos machen. Eine ebenfalls starke Spur ist für mich die Musik, die mich über den Alltag erhebt und eintreten lässt in eine andere geheimnisvolle Welt, die nicht mehr von Raum und Zeit beherrscht wird. Beim Lauschen auf sie lösen sich die Dissonanzen der Welt auf, und ich werde ansichtig des Schönen, das der Abglanz der ewigen Wahrheit ist. Musik heilt die Wunden, die die Welt schlägt, und vermittelt eine Ahnung der kommenden Welt.
Erfahrbar wird Gott für mich schließlich in der Stille, wenn alle Gedanken, Vorstellungen und Bilder zurücktreten; wenn ich versuche, ganz offen und hörbereit für Gottes Stimme zu sein. In diese Stille hinein kann Gott zu mir sprechen, und ich kann Gott all das sagen, was mich bewegt: Frohes und Trauriges, Lob und Dank, Bitte, aber auch Klage.
DOMRADIO.DE: Gab es schon Situationen, in denen Sie mit Gott gehadert oder Ihren Glauben infrage gestellt haben? Und wenn ja, was hat Ihnen da geholfen?
Seul: Natürlich gibt es in meinem Leben auch dunkle Stunden. Manche sind "berufsbedingt". Ich denke besonders an die Begleitung und Beerdigung von Menschen, die vor ihrer Zeit sterben mussten. Ihr Hadern mit ihrem Schicksal und ihre vielen Fragen nach Gott und dem Warum waren schwer auszuhalten. Ebenso die große Hilflosigkeit und tiefe Trauer der Angehörigen und Freunde, die am Kranken- oder Sterbebett dabeistanden oder zurückblieben. Aber auch wenn Menschen in einem seelsorglichen Gespräch ihre momentane desolate Situation schildern, frage ich mich oft, warum sie so viel zu leiden haben und warum Gott so weit weg ist.
Zweifel an Gottes Führung und Leitung kommen mir auch, wenn ich an die zahllosen und namenlosen Opfer der Weltgeschichte denke. Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem erinnern. Die dort ausgestellten Bilder und Dokumente haben mich lange nicht losgelassen. Aber auch die gegenwärtigen Nachrichten über die vielen sinnlosen Opfer menschlicher Gewalt in Gaza oder der Ukraine machen mir sehr zu schaffen. Warum lässt Gott dieses Ausmaß an Leid und Elend zu?
Andererseits muss ich für mich persönlich sagen, dass ich mit einem durchaus festen Glauben an Gott beschenkt bin. Vor acht Jahren musste ich mich einer schweren Operation am offenen Herzen unterziehen. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich relativ entspannt und zuversichtlich die Nacht zuvor erlebt habe. Ich hatte großes Vertrauen in die Ärzte und ihr medizinisches Können, aber auch in die Fürsorge Gottes.
Mein Primiz-Spruch war ein Zitat aus dem Buch des Propheten Jeremia: (So spricht Gott, der Herr:) "Ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben". Dieser Spruch sollte einerseits Programm für meinen priesterlichen Dienst sein, nämlich den Menschen Mut und Zuversicht zu vermitteln. Andererseits sollte er auch meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass das "Ich bin bereit", das ich bei der Priesterweihe gesprochen habe, ein ganzes Leben lang halten möge.
DOMRADIO.DE: Von 2002 bis 2012 waren Sie schon einmal in der Begleitung von Priestern tätig – als theologischer Referent im Generalvikariat mit dem Schwerpunkt Personalentwicklung der Priester – und sagen heute, Priesterausbildung sei auch ein geistlicher Prozess, in dem sich Leben und Berufung klären. Wie stark muss der eigene Glaube sein, wenn man jungen Menschen bei ihrem Weg zum Priestertum Halt und Orientierung geben und gleichzeitig die ganz individuelle Suche des Einzelnen respektieren will?
Seul: Für meine Tätigkeit im Priesterseminar brauche ich nicht so sehr einen "starken" Glauben, ich komme ja nicht in eine gottlose oder gottfeindliche Atmosphäre. Ganz im Gegenteil! Auch hier ist ein lebendiger Glaube gefragt. Nach 34 Dienstjahren weiß ich, dass im Laufe der Jahre vieles ganz anders kommt als geplant: dass es Hoch-Zeiten gibt, wo alles glatt läuft, dass aber auch Durststrecken kommen, wo die eigenen Ideale und Ansprüche infrage gestellt werden. Der Philosoph Gabriel Marcel hat einmal von der "schöpferischen Treue" gesprochen. Damit hat er die Fähigkeit gemeint, so zu leben, dass ein einmal gegebenes Ja-Wort lebendig bleibt. Treue hat darum nichts zu tun mit "aushalten", "durchstehen" oder "geduldig ertragen", sehr wohl aber mit Lebendigkeit und Kreativität.
Zwei Bereiche, die ich zu verantworten habe, werden die Predigtlehre und liturgische Praxis sein. Dabei ist mir neben der Vermittlung von Technik und Know-how die Pflege des "brennenden Herzens" wichtig, so wie es in der Begegnung der Emmaus-Jünger mit dem Auferstanden zur Sprache kommt. Sie allein macht, dass mein pastorales Tun nicht in Routine erstarrt oder in Langweile abgleitet, sondern lebendig und beseelt bleibt.
Meine pastorale Erfahrung sagt mir: Ich selbst, meine Person und Persönlichkeit, bin im Grunde das wichtigste Instrument der Seelsorge. Wenn es verstimmt oder beschädigt ist, dann nützt es zu nichts mehr. Ich darf darum die Sorge um mich selbst nicht vernachlässigen. Der heilige Bernhard hat einmal seinem ehemaligen Schüler Papst Eugen III. folgenden Ratschlag gegeben: "Denk also daran: Gönne dich dir selbst. Ich sag nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen."
Als Mitarbeiter in der Leitung möchte ich dazu beitragen, dass die Seminaristen die Talente und Fähigkeiten, die Gott ihnen geschenkt hat, entdecken und ausprägen. Dann erst kann der Glaube authentisch und der priesterliche Dienst fruchtbar werden. Im Rückblick auf meine eigene Seminarzeit muss ich allerdings sagen, dass es manchmal schwierig war, die Charismen des anderen zu akzeptieren und auszuhalten. Es hat Zeit und viel Gelassenheit gebraucht, bis ich die Eigenheiten des anderen nicht so sehr als Bedrohung oder Infragestellung erlebt habe, sondern als Bereicherung.
DOMRADIO.DE: Wie sehr wirkt sich das, was Sie tun, auf Ihren Glauben aus? Und umgekehrt: Wie notwendig ist der Glaube für Ihr Selbstverständnis, aber auch Ihr Wirken in der Kirche?
Seul: "Der Glaube für sich allein (ist) tot", heißt es im Jakobusbrief. Er muss sich vielmehr auswirken in der Liebe, wie der Apostel Paulus im Galaterbrief sagt. Diese Einsicht ist mir schon durch meine Eltern vermittelt worden. Ihnen waren Menschen zuwider, bei denen Reden und Tun auseinanderklafften. Für sie war ganz wichtig, dass beides übereinstimmte. Das ist auch für mich persönlich ganz bedeutsam geworden. Der Gottesdienst und der Dienst am Menschen können nicht getrennt werden. Beides gehört zusammen.
Der heilige Franziskus hat dieses wunderbare Wort gesagt: "Verkündet allen Menschen das Evangelium, wenn notwendig auch mit Worten." Die überzeugendste Verkündigung ist doch die des eigenen Lebens.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.