Kaum waren die hochemotionalen Diskussionen über des Kanzlers Stadtbildäußerungen abgeklungen, entbrannte neuer Streit in der Union. Dieses Mal um die inmitten von syrischen Bürgerkriegsruinen ausgesprochenen Zweifel des Bundesaußenministers, ob man wirklich Menschen in diese Trümmerwüste zurückschicken sollte.
Keinesfalls wollte die Parteispitze den Eindruck erwecken, den eingeschlagenen harten Asyl- und Migrationskurs der Merz-Regierung abzuschwächen. Keinesfalls wollte man der in Teilen gesichert rechtextremen AfD in dieser Sache neue Steilvorlagen liefern. Dass eine rigorose Abschiebungs- und Rückführungspolitik tatsächlich dazu dient, endlich den Zulauf zur AfD einzudämmen, daran zweifeln allerdings nicht nur kirchliche Flüchtlingshelfer. Auch aus den eigenen Reihen kommt jetzt öffentlich vorgetragener Protest, von den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des 14-Punkte-Papiers "Compass Mitte" nämlich. Da treten Unionsmitglieder und ihnen Nahestehende dafür ein, dem sozialen und liberalen Teil der Partei wieder deutlicher sichtbar zu machen und das "C" im Parteinamen auch jenseits von Sonntagsreden neu mit Leben zu füllen.
Zwischen Stadtbild- und Rückführungsdebatte
Dass sie ihre Initiative genau in der Lücke zwischen Stadtbild- und Rückführungsdebatte publik machten, sei aber Zufall gewesen, versichert Mitinitiator Ruprecht Polenz. Der engagierte Katholik, der im Jahr 2000 einige Monate lang CDU-Generalsekretär war, ist neben dem Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter und der Vize-Bundesvorsitzenden der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Monica Wüllner einer der wenigen Prominenten auf der Liste, die mittlerweile auf über 200 Namen angewachsen ist. Sie alle, so Polenz, fragten sich schon länger, ob der aktuelle, stark konservativ geprägte Kurs der Union tatsächlich der richtige sei, die Zahlen sprächen doch für sich. "Wir sind natürlich nicht zufrieden mit unserem letzten Bundestagswahlergebnis von 28,6 Prozent. Und in aktuellen Umfragen schneiden wir sogar noch schlechter ab."
In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein hätten die beiden geräuschlos mit den Grünen regierenden CDU-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst und Daniel Günther dagegen gezeigt, wie es auch gehen könne: Wüst holte für die CDU an Rhein und Ruhr 35,7, sein Parteifreund Günther im Norden gar 43,7 Prozent. Was in Polenz‘ Augen beweist, dass die Union als im Wortsinn christdemokratische bzw. christsoziale Partei weiter das Zeug zur Volkspartei hat, während er das Potenzial einer in erster Linie konservativen Partei bei maximal 25 Prozent sieht. Wie die anderen Compass-Unterzeichner hält auch Polenz die – wie er selbst sagt – "starre Fixierung" der Union aufs Thema Migration für den falschen Weg. Migration müsse sicherlich geordnet und begrenzt werden.
Aber über viele andere wichtige Themen rede die Union im Verhältnis dazu viel zu wenig, beklagt der CDU-Mann und nennt Putins Aggression gegen die Ukraine, den Umgang mit Trump oder die Sicherung der Gesundheitsversorgung und Pflege in der alternden Gesellschaft. "Die CDU hat durchaus Ideen, aber sie rückt sie nicht ausreichend in die öffentliche Diskussion, so dass wir auch einmal bestimmen würden, über welche Themen in Deutschland geredet wird".
"Dauergerede" über Migration
Das "Dauergerede über Migration" sieht auch der katholische Publizist und Politikwissenschaftler Andreas Püttmann als Gefahr, der AfD absehbar nicht Herr zu werden. Seit Jahren schon warnten die Experten davor, so Püttmann, mit der Migration das Lieblingsthema der AfD "in dramatisierender Weise ganz oben auf die Agenda zu setzen".
"Sonst profitiert natürlich immer das Original und nicht die abgeschwächte Kopie.“ Püttmann selbst hat zwar die Union aus Protest gegen Angela Merkels Positionen in der Stammzellenfrage und ihre damalige Kritik an Papst Benedikt XVI. schon 2009 verlassen, fühlt sich aber weiter als "Christdemokrat im Geiste" und macht als solcher bei "Compass Mitte“ mit. Die Kritik, die den Unterzeichnern jetzt aus den Sozialen Medien entgegenschallt, sie seien doch in erster Linie ewig gestrige Merkel-Nostalgiker, kann Püttmann also getrost an sich abprallen lassen.
Dass das Anliegen der Compass-Unterstützer bisher kaum Echo aus den vorderen Reihen der Union bekommen hat, erklärt er in erster Linie mit Parteidisziplin. Dass etwa NRW-Arbeitsminister Karl Josef Laumann, eigentlich für seine christlich-soziale Ausrichtung bekannt, auf Distanz ging und die Initiative als überflüssig abtat, wundert Andreas Püttmann nicht. "Er war schon immer ein Paladin von Friedrich Merz."
Kurskorrektur für bessere Wahlergebnisse
Polit-Analyst Püttmann glaubt, dass eine Kurskorrektur Richtung christsozialer Mitte die Union für Wechselwähler wieder attraktiver machen könnte. Dann könne auch er selbst wieder vom Wechsel- zum Stammwähler wechseln, der er schließlich Jahrzehnte lang gewesen sei. In erster Linie darauf zu zielen, der AfD Klientel abzujagen, sei ohnehin ein begrenztes Unterfangen. "Von deren Wähler können sich nur 9 Prozent vorstellen, alternativ für die CDU/CSU zu stimmen.“
Was "Compass Mitte"-Anhänger wie Püttmann und Polenz weiter verbindet, ist ihr unbedingter Glaube an die vielzitierte Brandmauer gegen die AfD. Sie stehen, so stellen sie es im 14-Punkte-Papier klar, für radikale Abgrenzung auf allen Ebenen.
Ob das nicht am Ende doch ein probates Mittel zur Bezwingung demokratiefeindlicher Kräfte sein könne, sei ja keineswegs bewiesen, betont Ruprecht Polenz. Er begrüße zwar den scharfen Abgrenzungskurs des Kanzlers zur AfD und nehme ihm auch seine Verachtung für die AfD "komplett ab“. Gleichzeitig vermisst der Münsteraner Christdemokrat aber die konsequente Durchsetzung dieser Abgrenzungspolitik bis in die Kommunen hinein.
Wenn Lokal- und Landespolitiker im Osten der Republik sich damit brüsteten, wie sie sich ganz bewusst über die Brandmauern hinwegsetzen und immer wieder auch forderten, eben diese Brandmauern einzureißen, brauche es ein glasklares Machtwort von ganz oben.
Dass unter all der Häme und den Hate-Speech-Attacken, die sie jetzt im Netz für ihre Compass-Initiative ernten, die schlimmsten tatsächlich aus den Reihen der AfD selbst kommen, sieht Polenz übrigens als Bestätigung. "Wir haben da wohl einen Nerv getroffen." Dass viele Beobachter die Relevanz von "Compass Mitte“ in erster Linie nach dem Bekanntheitsgrad der Unterzeichner beurteilen, wundert den Politveteranen Polenz natürlich nicht, aber es ärgert ihn schon. "Es ist in gewisser Weise auch ein Experiment. Ob wir es nämlich in Deutschland schaffen, über Texte und Inhalte zu diskutieren, auch wenn noch kein Bundespräsident darunter steht."