In der griechisch-orthodoxen Kirche Sankt Elias im Südosten von Damaskus ist am Sonntag das passiert, wovor Christen in ganz Syrien monatelang Angst hatten. "Ein Terroranschlag, eine feige Tat", sagt der Informationsminister Hamsa Mostafa, kurz nach dem Attentat. Als die Sozialministerin, Hind Kabawat, und einzige Christin im Kabinett, den Tatort kurz darauf besucht, hat sie Tränen in den Augen.
Etwa 200 Gläubige sollen Berichten zufolge an jenem Nachmittag im Gebet vertieft gewesen sein, als auf der Straße mehrere Schüsse fallen. Dann dringt ein Mann in die Kirche ein, wirft eine Handgranate und sprengt schließlich sich selbst in die Luft. So berichten es einstimmend Augenzeugen und so zeigen es Videoaufnahmen vom Tatort.

In den darauffolgenden Stunden versammeln sich Christen und Muslime in mehreren Teilen des Landes und halten gemeinsame Mahnwachen ab. In Damaskus folgen Bewohner dem Aufruf des Katastrophenschutzes, der dringend um Blutspenden für die Dutzenden Verletzten bittet. In den sozialen Medien und im syrischen Fernsehen verbreiten sich Interviews mit Muslimen auf Krankenliegen: Es sind einfache Anwohner, die ihr Blut den Christen geben wollen – als Zeichen der Solidarität.
Der Terroranschlag stellt das Land auf eine Probe. "Wir sind eins", hatten Millionen Syrer gerufen, nachdem im vergangenen Dezember das Regime von Ex-Diktator Bashar al Assad gestürzt worden war. Binnen nicht einmal zwei Wochen hatten Rebellen die jahrelange anhaltende Diktatur abgeschafft.

Angeführt wurde die Operation von Funktionären der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al Sham (HTS). Ihr damaliger Chef, Muhammad al Jolani, war früher selbst Dschihadist. Er hatte Beziehungen zum IS, war bei Al Quaida, danach bei der Nusrafront und zuletzt bei HTS. Zwischendurch saß Jolani als Gefangener im Irak in US-Haft. Heute heißt er Ahmed al Scharaa, ist Interimspräsident von Syrien und verfolgt einen offiziell christenfreundlichen Kurs.
Problematische Aussagen deutscher Politik
Ob dieser aufrichtig ist oder nicht: Das Wohl der Minderheiten ist für die Interimsregierung strategisch wichtig. Ihr Schutz ist eine Bedingung für die endgültige Aufhebung der internationalen Sanktionen und Zusammenarbeit mit Syrien. Davon hängen wiederum die Wirtschaftslage und der Wiederaufbau ab. Das deutete am Montag noch Bundesaußenminister Johann Wadephul an. Am Rande eines EU-Treffens sagte er, dass die Unterstützung Deutschlands nur dann weitergehe, wenn die Interimsregierung dem Aufruf zur "Politik der Versöhnung” folge und ethnische wie religiöse Gruppen mehr einbeziehe.

Diese Schlussfolgerung ist fatal. Sie klingt, als erwarte Wadephul entweder eine Versöhnung mit Extremisten und Dschihadisten oder als wähne er die Interimsregierung selbst auf der Täterseite. Vor allem aber spielen Aussagen wie diese genau den Kräften in die Hände, die Syrien instabil sehen wollen. Denn Sharaa und seine Leute haben viele Gegner, mutmaßlich selbst in den hinteren, eigenen Reihen. Manche sollen einfache Extremisten sein, die sich einen härteren Kurs wünschen, andere sollen dem alten Regime nachtrauern. Auch Kooperationen mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sind nicht ausgeschlossen. Was sie alle vereint, ist der Wunsch, die Interimsregierung zu delegitimieren und zu zeigen: Die neue Führung hat das Land nicht im Griff.
Kein kompletter Schutz möglich
Der Terroranschlag auf die Kirche in Damaskus unterstützt dieses Narrativ. Offenbar gibt es Sicherheitslücken im System, offenbar kann die Interimsregierung ihre Bürger nicht komplett schützen und offenbar ist auch die Kommunikationsarbeit problematisch: Kaum eine Stunde nach dem Attentat verkündeten Vertreter der Interimsregierung, dass wohl der IS verantwortlich ist. Auch wenn die Ermittlungen zu dem Zeitpunkt gerade erst begonnen hatten, stimmten internationale Beobachter zu: Der Vorgang des Anschlags sei typisch für IS-Dschihadisten. Untypisch ist aber, dass es bis jetzt kein Bekennerschreiben der Miliz gibt.

Einen Tag später tauchte dann eine erste Erklärung auf, aber nicht vom IS. Die Gruppe "Saraya Ansar al-Sunnah" zeigte sich verantwortlich für das Attentat. Sie ist im Februar gegründet worden, operiert im Libanon und in Syrien und wird als salafistisch eingestuft. Eigenen Angaben zufolge definiert Saraya Ansar al-Sunnah sich als Teil des Assad-Regimes. Unklar ist aber, ob das Bekennerschreiben überhaupt echt ist.
Wer sind die Täter?
Manche Beobachter diskutieren eine Mittäterschaft von Anhängern der kurdisch-geführten Miliz SDF im Nordosten des Landes. Ihre Führung kooperierte früher mit Assad, der islamistischen Hizbullah, russischen Gruppen und soll bis heute dem alten Regime treuer sein als der neuen Führung in Damaskus.
Die warnte derweil vor Desinformationskampagnen in den sozialen Medien und bezog mehrfach klare Stellung: Die Toten seien "Märtyrer”, der Angriff gelte nicht nur Christen, sondern der gesamten Gesellschaft und sowieso seien Attentate auf Gotteshäuser eine "rote Linie". Die Mehrheit der syrischen Bevölkerung dürfte diesen Worten zustimmen. Viele, vor allem Christen, wollen aber Taten sehen. Doch die Interimsregierung hat zu wenig Sicherheitspersonal, um zum Beispiel alle Kirchen polizeilich zu schützen.
Nach dem Sturz des Regimes waren hunderttausende Beamte entlassen worden. Manche Beobachter sagen, dass es sogar mehr als eine Million gewesen sind. Darunter befanden sich auch Sicherheitskräfte. Manche sind wieder eingestellt worden. Doch eine Garantie, dass sie dem neuen Syrien loyal sind, gibt es nicht. Berichten zufolge arbeiten inzwischen etwa unerkannte Assadisten als Kontrolleure an Checkpoints.
Christen denken über Auswanderung nach
Die Folge: Misstrauen, Verwirrung und Skepsis gerade unter den Minderheiten. Manche Christen fürchten eine Islamisierung Syriens. Die meisten äußern sich aber zurückhaltend. Es sind vor allem die Kirchenführer, die zur Zusammenarbeit mit der Interimsregierung aufrufen. Sie hoffen gemeinsam gegen extremistische Kleingruppen und Assadisten stark sein zu können.

Um in Syrien zu bleiben, reicht Hoffnung allein aber nicht aus. In Hintergrundgesprächen merken viele Christen an, dass sie ihre Heimat vielleicht verlassen werden. "Es gibt wirklich keine Worte, um diese Situation zu beschreiben", erzählt eine junge Christin am Tag nach dem Terroranschlag von Damaskus am Telefon. Sie selbst habe jetzt Angst noch einmal einen Gottesdienst zu besuchen. So gehe es gerade vielen, sagt die Frau. Einen Satz wiederholt sie mehrfach während des Gesprächs: "Bitte beten Sie für uns."