Bundeskongress gibt Einblicke in Arbeit von Notfallseelsorgern

Notfallseelsorge als Gratwanderung

Bundesweit gibt es rund 7.500 Notfallseelsorger der beiden großen Kirchen. Hinzu kommt eine steigende Anzahl von muslimischen Notfallbegleitern. Drei Beispiele, die zeigen, wie wichtig deren Arbeit sein kann.

Einsatzjacken von Notfallseelsorgern / © Marius Becker (dpa)
Einsatzjacken von Notfallseelsorgern / © Marius Becker ( dpa )

Das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, eine Firma in Hilden und ein Bahnsteig in Königswinter bei Bonn. Drei Tatorte, drei Geschichten von Tod, Trauer und Schmerz. Erfurt, 26. April 2002. Am Vormittag gegen 10.45 Uhr betritt der 19-jährige Robert Steinhäuser das Gebäude, in dem er bis vor kurzem selbst zur Schule gegangen ist. In einer Sporttasche oder seinem Rucksack führt er mehrere Waffen bei sich. Keine halbe Stunde später sind 16 Menschen tot, zum Schluss richtet der Amokläufer sich selbst.

Hilden, 9. November 2012. Wie seit Jahren erscheint ein 38-jähriger Maschinenführer pünktlich zum Dienst in der Hildener Niederlassung des US-Technologieunternehmens 3M. Plötzlich schießt er um sich, zunächst in der Kantine, dann im Umkleideraum. Mehrere Kollegen werden verletzt, zwei von ihnen schwer. Auch hier bringt der Täter zum Schluss sich selbst um.

Königswinter bei Bonn, 29. August 2007. Gegen 20.30 Uhr verlässt die 14-jährige Hannah Wiedeck die Straßenbahn. Ein 25-Jähriger überwältigt sie, zerrt sie in ein Gebüsch und vergewaltigt sie. Anschließend tötet er sie mit mehreren Messerstichen.

Gutenberg-Schulrektorin: Krisenkonzepte notwendig

Wie Betroffene mit diesen drei Taten umgehen, war am Freitag Thema auf dem 17. Bundeskongress der katholischen und evangelischen Notfallseelsorger in Köln. Rund 7.500 von ihnen gibt es bundesweit, etwa 21.000 Mal sind sie pro Jahr im Einsatz.

Christiane Alt, Rektorin der Gutenberg-Schule, berichtet mit fester Stimme von dem Amoklauf. Es habe für einen solchen Fall an einem Krisenkonzept gefehlt. Über Stunden konnten Schüler und Lehrer das Gebäude nicht verlassen, bei der Evakuierung mussten Kinder und Erwachsene an den Leichen vorbei, die teilweise nur notdürftig abgedeckt auf den Fluren lagen.

Rettungskräften und Polizisten hatten keinen Zugriff auf Pläne der Schule. Das habe sich seither geändert, sagt Alt. "Jetzt besitzen Schulträger außerhalb der Häuser Notfallpläne." Damals, so erinnert sich Alt, die nur mit viel Glück den Amoklauf überlebte, habe sie vor allem die "Ohmacht der einzelnen Menschen" gespürt. Eine Botschaft von Alt: Es braucht so schnell wie möglich Experten vor Ort, die den Betroffenen helfen, das Geschehene zu verarbeiten.

Unternehmen in Hilden: Räumliche Umbauten nach der Tat

Bei 3M konnten Helfer schneller tätig werden, wie Personalmanagerin Ursula Marie Eckert erzählt. Auch drei Jahre nach der Schießerei auf dem Betriebsgelände ist sie dankbar dafür, dass darunter auch ein Team der Notfallseelsorge war. "Ohne Sie hätten wir das nicht geschafft", sagt sie vor den rund 460 Teilnehmern des Kongresses in Köln.

Mental sei das Geschehen inzwischen verarbeitet. Aber Narben bleiben. Den Umkleideraum bauten sie in Hilden bald nach der Tat um; die Kantine kam später an die Reihe. Der Fall zeigt: Die Notfallseelsorge kommt meist unmittelbar nach dem Geschehen zum Einsatz. Aber sie kann Grundsteine legen für die weitere Auseinandersetzung mit den traumatischen Ereignissen, dabei helfen, «das auszuhalten, was sich nicht aushalten lässt», wie es ein Seelsorger formuliert.

Manchmal erwachsen daraus auch dauerhafte Kontakte. Dieser Eindruck zumindest entsteht, wenn Hannahs Vater Volker Wiedeck von dem evangelischen Pfarrer Albrecht Roebke erzählt, der dabei ist, als die Familie vom Tod ihrer Tochter erfährt. "Alle sind wie von einer Bombe getroffen, völlig zerfetzt", beschreibt Wiedeck diesen Moment.

Notfallseelsorge als Gratwanderung

Roebke habe Einfühlungsvermögen bewiesen und nach der Devise gehandelt: "Komm nicht zu schnell und nicht zu nah und guck': Was mag Dein Gegenüber", erinnert sich Wiedeck. "Sprüche von Gott" seien da zunächst eher nicht gefragt. Notfallseelsorge, das wird an Wiedecks Ausführungen deutlich, ist eine Gratwanderung.

Die Familie hat eine Stiftung gegen sexuelle Gewalt gegründet und sie nach der ermordeten Tochter benannt. "Handlungsunfähig zu sein, ist mir unerträglich", begründet Volker Wiedeck diesen Schritt. "Der Mensch ist für mich das übelste Tier, was exisitiert", sagt er. "Trotzdem ist es um ihn nicht verloren." Dass zeige ihm die bis heute anhaltende Solidarität aus der Bevölkerung. Diese Einschätzung - trotz allen Leids - dürfte Hannahs Vater wohl auch dank der Arbeit von Notfallseelsorger Roebke möglich sein.


Quelle:
KNA