Notfallseelsorger diskutieren Umgang mit Gewaltopfern

Aus Erfahrungen lernen

Nach dem Absturz der Germanwingsmaschine im März waren viele Notfallseelsorger im Einsatz, um Betroffenen Hilfe zu leisten. Bei ihrem Bundeskongress geht es darum, aus Erfahrungen zu lernen, wie Dr. Uwe Rieske bei domradio.de sagt.

Mitarbeiterinnen der Notfallseelsorge / © Maja Hitij (dpa)
Mitarbeiterinnen der Notfallseelsorge / © Maja Hitij ( dpa )

Der Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention steht unter dem Titel "Formen und Folgen von Gewalt" und dauert noch bis Freitag. In der Notfallseelsorge sind den Angaben zufolge bundesweit 7.500 Mitarbeiter tätig, davon 5.000 Pfarrer, Diakone und fest angestellte Kirchenmitarbeiter. Bei den restlichen 2.500 handelt es sich um Ehrenamtliche. Im Jahr finden in ganz Deutschland etwa 21.000 Einsätze statt.

domradio.de: Notfallseelsorger sind dafür da, Menschen in extremen Situationen sozusagen erste Hilfe für die Seele zu leisten. Oft werden Unfallopfer betreut. Was ist denn anders, wenn jemand der willkürlichen Gewalt eines anderen ausgesetzt war?

Dr. Uwe Rieske (Landespfarrer für Notfallseelsorge der Evangelischen Kirche im Rheinland): Zunächst einmal haben wir es in unseren Einsätzen als Mitarbeitende in der Notfallseelsorge häufig damit zu tun, dass Menschen ihr Vertrauen verlieren. Ihr Vertrauen in ihre Umwelt und ihr Leben, das sie bisher geführt haben. Sie haben das Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Auf einmal ist alles anders als es zuvor gewesen ist. Das ist bei Gewalttaten in ganz hohem Maße der Fall. Man verliert das Vertrauen in Menschen und, je nachdem ob es vorher auch Täterkontakte gab, kann die Wirkung einer Gewalttat besonders sein. Man verliert nicht nur das Vertrauen in die Umwelt und das bisher geführte Leben, sondern auch noch die Sicherheit.

domradio.de: Also ist es auch eine andere Reaktion als bei einem Autounfall?

Dr. Uwe Rieske: Individuell und subjektiv wird jeder Unglücksfall natürlich von jedem einzelnen auf seine einzigartige, besondere Weise erlebt. Insofern kann man nicht sagen, dass für jeden Menschen ein Autounfall weniger schlimm ist als eine Gewalttat. Solche kurzen Folgerungen versuchen wir in der Notfallseelsorge nicht zu ziehen. Gleichwohl können wir sagen, dass Gewalttaten ihre ganz eigenen Wirkungen haben, die oft auch sehr lange andauern können, weil sie einfach verstörende Bedeutung haben.

domradio.de: Notfallseelsorge bedeutet aber auch, dass sie unmittelbar nach so einer Tat gerufen werden?

Dr. Uwe Rieske: In aller Regel ja. Insbesondere bei Gewalttaten ist - je nachdem was passiert ist - auch ein hohes öffentliches Interesse da. Wenn es um eine Gewalttat geht, die auch noch der Aufklärung bedarf, wird es nach einiger Zeit auch noch einen Prozess geben. Und ich kenne einige Notfallseelsorger, die Menschen dann tatsächlich aus der Akutsituation auch neu begleitet haben, etwa wenn die Anklage erhoben wurde oder ein Prozess zu führen war. Aus diesen längerfristigen Begleitungen wurde deutlich, dass mit der Akutsituation diese Lage nicht vorbei ist.

domradio.de: Was brauchen denn Menschen, die das Vertrauen verloren haben, am dringendsten?

Dr. Uwe Rieske: Zuwendung und den Raum, das äußern zu können, was sie beschäftigt und bewegt. Ein Notfallseelsorger oder eine Notfallseelsorgerin öffnet diesen Raum. Wir sind vielleicht die ersten, denen man erzählen kann, was passiert ist und was es in dieser Akutsituation bedeutet. Und man kann uns auch deutlich sagen kann, das oder den brauche ich jetzt und dies oder das brauche ich gar nicht. Auf diese Wünsche und Bedürfnisse von Betroffenen zu reagieren und zu schauen, was sie selbst können und selbst brauchen, das ist der Dienst, den wir anbieten. Vielfach, insbesondere bei Gewalttaten, auch in Kooperation mit dem Opferschutz der Polizei.

domradio.de: Wenn wir jetzt mal auf die Seite der Seelsorger schauen: Brauchen die eine besondere Ausbildung, um speziell Gewaltopfern beizustehen?

Dr. Uwe Rieske: Eine davon leistet etwa unser Bundeskongress. Wir haben hier 23 Workshops, die die einzelnen Facetten des Themas "Umgang mit den Formen und Folgen von Gewalt" abschreiten. Wir versuchen einander auch das, was wir an Erfahrungen in solchen Einsätzen gemacht haben, weiterzugeben. Denn wir lernen am meisten aus dem, was wir aus Einsätzen und von Menschen erfahren. Uns eigens auf diese Einsätze vorzubereiten, ist im Grunde Sinn des Kongresses.

domradio.de: Wie haben sich Gewalttaten in den vergangenen Jahren entwickelt? Sind sie eher weniger oder eher mehr geworden?

Dr. Uwe Rieske: Das ist schwer zu sagen. Die Statistiken geben diesbezüglich wenig her. Denn tatsächlich wird nur ein Teil der Gewalttaten so öffentlich, dass Notfallseelsorger mit hineingezogen werden. Uns hat im letzten Jahr der Gemanwingsabsturz am 24. März sehr beschäftigt. Auch dies war eine Form von Gewaltausübung, gegen sich selbst, aber mittelbar damit auch gegen andere. Sich dem unabhängig von der Quantität zuzuwenden, ist unser Dienst und unsere Aufgabe. Gefühlt und in der Einsatzwirklichkeit sind das immer besondere Herausforderungen, die sich bei diesen Gewalttaten stellen.

Das Interview führte Uta Vorbrodt

 

Rheinischer Präses Manfred Rekowski hat die Arbeit der Notfallseelsorger gewürdigt

Der rheinische Präses Manfred Rekowski hat derweil die Arbeit der Notfallseelsorger gewürdigt. Bei einem Gottesdienst mit Notfallseelsorgern am Donnerstagabend in Köln sagte er: "Manchmal werden Sie zu Menschen, die aushalten, was nicht auszuhalten ist." In vielen Situationen gebe es keinen Trost oder Entlastung. "Aber es gibt Nähe und den Zuspruch, dass jemand nicht allein ist mit dem, was ihn betroffen hat." Der Gottesdienst fand im Rahmen des bis Freitag dauernden Bundeskongresses Notfallseelsorge statt.

Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland erinnerte an die Trauerfeier im Kölner Dom im April für die Opfer des Flugzeugabsturzes in Frankreich. "Beeindruckend fand ich, wie die auf unterschiedliche Weise betroffenen Menschen - von den Angehörigen bis zu den Mitarbeitenden der Fluggesellschaft, von den Schülern in Haltern bis zum Co-Piloten - im Gottesdienst vorkamen und im Blick waren mit ihrer je eigenen Situation."

 


Quelle:
DR