domradio.de: Als "wohlstandsverwöhnt" hat Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll die Gegner des Bahnprojekts "Stuttgart 21" bezeichnet. Sehen sie das auch so? Erleben wir in Stuttgart einen Aufstand der Besserverdienenden?
Terwitte: Ich glaube nicht, dass man mit diesen Beschimpfungen weiterkommt. Ich wundere mich, dass die Politiker in dieser Art und Weise mit dem Volk umgehen. Mit solchen Schlagworten hilft man nicht weiter, sondern heizt die Stimmung nur an. Was jetzt notwendig ist, ist hinzuhören, welche Argumente haben die Gegner, warum wachen sie jetzt erst auf, warum haben sie 15 Jahre lang geschlafen, warum gehen sie jetzt auf die Straße? Und da muss man jetzt auch schon was gegen die Gegner sagen: Ich glaube schon, dass da ein Aufstand probiert wird von denen, die jetzt ihre Chance sehen, sich mal wieder ganz neu ins rechte Licht zu rücken; diese bürgerliche Mitte, die jetzt aktiv wird, handelt sicher nicht nur aus dem Motiv heraus, man möchte die Stadt erhalten in seinem Stadtbild. Sie hat sicher auch eigene Interessen.
domradio.de: Es wird ja auch als Egoismus ausgelegt, weil ja nur protestiert wird, wenn es einen selber betrifft...
Terwitte: Ich glaube, das ist eine ganz schwere Stunde, die unsere Demokratie auch hat: dass Bürger dann aktiv werden, wenn es ihnen an ihre eigenen Interessen geht, wenn sie selber betroffen sind, wird ein Volksbegehren gemacht, dann wird eine Initiative gestartet. Aber die Parteien werden immer leerer und man hat diese demokratischen Prozesse offensichtlich nicht mehr im Kopf als Prozesse, an denen man sich selber zu beteiligen hat. Hier fehlt es offensichtlich an politischer Bildung - aber auch an politischer Motivation, den Kleinkram zu machen.
domradio.de: Aber könnte diese Protestkultur nicht ein Aufwachen aus dieser politischen Apathie bedeuten?
Terwitte: Ich habe da meine Zweifel. Menschen missbrauchen Politik als Event-Kultur- ein Event, wo man miteinander mal auf die Straße gehen und ein schönes Gefühl zelebrieren kann. Aber da ist ja noch sehr viel herum zu bedenken: Wenn es dann plötzlich schwierig wird, wenn die kleinen Fragen des Alltags kommen, die entschieden werden müssen, dann fehlt doch oft der lange Atem. Und darum bin ich skeptisch - diese Volksaufstände als politisch zu bezeichnen. Sie sind vielleicht eine Meinungsäußerung, sie machen Unmut eine Stück weit Luft, aber zu einer politischen Arbeit gehört auch sehr langfristig nachzudenken.
domradio.de: Und dann beobachtet man immer wieder Extreme. Ob gegen den Duisburger Oberbürgermeister nach dem Unglück auf der Loveparade, oder jetzt bei Bahnchef Gruber, es werden gleich Morddrohungen gegen Beteiligte ausgesprochen. Was bedeutet das?
Terwitte: Das ist ein Zeichen dafür, dass Menschen auf einen Zug aufspringen, jetzt können sie ihren Gefühlen ungezügelt Lauf lassen und sich selber ins rechte Licht rücken. Ich halte diese Drohung für äußerst gefährlich, da sollte genauso ein Volksaufstand stattfinden.
domradio.de: Wie bewerten Sie die Haltung und Kommunikation der Politik?
Terwitte: Wir sehen ganz deutlich, dass Politiker einerseits sagen, wir wollen auf das Volk hören, und andererseits, wenn das Volk auftritt, gibt es durchaus eine Schicht in der Politik, die sagt, wir haben unsere eigenen Pläne, warum stört ihr unsere Kreise. Hier müssen sich Parteien fragen: Sind unsere Parteiversammlungen fragen, sind unsere Parteiversammlungen öffentlich genug, macht man genügend, dass die Leute auch wirklich teilnehmen können, und wie aufrichtig ist man wirklich mit neuen Menschen, die in die Parteien neuen Wind hineinbringen wollen?
domradio.de: Sind Volksentscheide ein richtiger Weg?
Terwitte: Volksentscheide können ein möglicher Weg sein, zentrale Fragen, die lange genug diskutiert wurden und mit der entsprechenden Ruhe bedacht wurden, zur Abstimmung zu bringen. Sie laufen völlig in eine falsche Richtung, wenn sie zu emotionalen Ereignissen hochstilisiert werden, wo es nicht um die Sache, sondern um Gefühle geht.
Das Gespräch führte Heike Sicconi.
Bruder Paulus zum Streit um Stuttgart 21
„Eine schwere Stunde für unsere Demokratie“
Der Kapuzinerbruder Paulus Terwitte kritisiert im Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 mangelndes Bewusstsein für demokratische Prozesse bei vielen Bürgern. Politik werde als „Eventkultur“ missbraucht, so der Bruder im Interview mit domradio.de. Mit Stuttgart 21 beschäftigen sich heute baden-württembergischer Landtag und Bundestag.
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