Brasilianische Mütter suchen verzweifelt nach ihren Kindern

Nur nicht aufgeben

200.000 Menschen verschwinden jedes Jahr in Brasilien, darunter 40.000 Kinder. Die Aufklärungsquote der Behörden liege bei 85 Prozent, meist "leichte" Fälle in denen die Kinder von zu Hause ausbüchsen. Doch jedes siebte Kind bleibt verschwunden, und durchschnittlich 6.000 Familien erhalten keine Antwort auf die Frage nach dem Wohin.

Autor/in:
Thomas Milz
Ivanise gründete die NGO "Maes da Se", die "Muetter der Se", die verschwundene Kinder sucht  (KNA)
Ivanise gründete die NGO "Maes da Se", die "Muetter der Se", die verschwundene Kinder sucht / ( KNA )

"Ich habe keine Ahnung, was mit meiner Tochter passiert ist. Sie verschwand 120 Meter von meinem Haus entfernt." Seit mehr als 13 Jahren sucht Ivanise Espiridiao da Silva nun schon nach Fabiana. Ohne Erfolg. "Im Laufe dieser Jahre habe ich nach einer Antwort gesucht. Aber ich finde einfach keine."

26 Jahre alt wäre ihre Tochter jetzt. "Nicht einen Tag waren wir davor voneinander getrennt. Und jetzt hat sie schon ihr halbes Leben ohne mich sein müssen." Ivanise hat sogar in einer Telenovela mitgespielt, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu finden

Danach beschloss sie, in Sao Paulo eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Seit März 1996 steht sie jeden Sonntag mit Leidensgenossinnen auf den Stufen der Kathedrale "Se", dem Bischofssitz Sao Paulos, Schilder mit den Bildern der verschwundenen Kinder vor der Brust. "Maes da Se", die "Mütter der Se" werden sie deshalb vom Volksmund genannt.

Soziales Problem
Zu verschwinden sei in Brasilien ein soziales Problem, sagt Ivanise.
Die meisten Fälle sind in den untersten Schichten der Gesellschaft anzutreffen. Mord, Pädophilie, Kinderprostitution, Organhandel - an grauenhaften Hintergründen mangelt es nicht.

"Mit welchem Recht nehmen uns diese Menschen unsere Kinder weg?", fragt Francisca Ribeiro Santos. Sie sucht seit 17 Monaten verzweifelt nach ihrem Sohn Hugo, ihrem einzigen Kind. Am Gartentor habe der damals 10-jährige gewartet, dass sie von der Arbeit kommt. "Meine Schwägerin rief ihn rein, doch er wollte warten. Als ich nach Hause kam, war er nicht mehr da."

"Irgendwann ist man als Mutter damit alleine"
Francisca hängte Fotos von Hugo in der Nachbarschaft auf, in den Krankenhäusern und auf öffentlichen Plätzen, stellte sein Bild ins Internet. "Bis heute suche ich ihn an allen möglichen und unmöglichen Orten, suche nach einer Spur von ihm. Aber da ist einfach nichts." Der Vater, von dem sie geschieden ist, habe am Anfang mitgesucht. Und rasch aufgegeben.

"Der Schmerz ist letztlich nur unser eigener, und irgendwann ist man als Mutter damit alleine." Francisca schloss sich den "Maes da Se" an. An die Hand genommen habe sie Ivanise, zu einem Psychiater gebracht, der ihr hilft ihr Schicksal auszuhalten. Auch Rechtsbeistand und Hilfe bei Behördengängen bietet die Selbsthilfegruppe den Müttern. Trotz ihrer eigenen Trauer würde Ivanise es niemals versäumen, den anderen Trost zu spenden.

Die Behörden gäben diesen Fällen nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdienen, klagt Ivanise. Und fordert die Einrichtung einer zentralen Registrierungsstelle für Verschwundene. "Wir leben in einem Land in dem ein geklautes Auto sofort in eine nationale Datenbank aufgenommen wird. Für Menschen gibt es so etwas jedoch nicht."

"Die Angst um dein Kind, die bringt Dich Stück für Stück um"
Fünf Mütter hat die "Maes da Se" seit ihrer Gründung bereits verloren - gestorben am Schmerz, meint Ivanise. Auch sie ist schwer krank, durchlebt Phasen tiefster Depression, leidet unter Bluthochdruck und hat zwei Herzinfarkte überlebt. "Die Angst um dein Kind, die bringt Dich Stück für Stück um." Ihre große Stütze ist ihre zweite Tochter. Der Ehemann ist vor den Problemen davongelaufen. "Männer haben nicht die psychische Stärke, um das auszuhalten", meint die tapfere Frau.

Ivanise und Francisca haben die Hoffnung nicht aufgegeben, ihre Kinder eines Tages doch noch zu finden. "Gott darf mich nicht ohne eine Antwort sterben lassen. Aber mein Herz, das Herz einer Mutter, sagt mir, dass meine Tochter noch lebt. Ich glaube einfach, dass Gott mich auf den Tag vorbereitet, an dem ich sie wieder sehen werde."