Betrachtung zu einer Pietà

Jeder tote Sohn fehlt schmerzlich

Unvorstellbares Leid erleben in diesen Tagen die Mütter von Söhnen, die im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ihr Leben verlieren. Da wird jede Frau, die um ihr Kind weint, zum Sinnbild einer Pietá.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti (DR)
Pietà von Käthe Kollwitz – Darstellung Marias mit dem Leichnam Jesu / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pietà von Käthe Kollwitz – Darstellung Marias mit dem Leichnam Jesu / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Sie war geblieben, als alle anderen flohen. Sie stand unter seinem Kreuz bis in die äußerste Finsternis hinein, und nichts vermochte sie wegzubringen: nicht die bebende Erde, nicht das Getöse des berstenden Gesteins, keine Derbheit der Soldaten, kein Hohngelächter der schaulustigen Menge. Dann kauerte sie nieder und ließ den Geschundenen, den Bespiehenen, den Verspotteten und qualvoll Gestorbenen in ihren Schoß gleiten. Nach den aufreibenden Jahren seines öffentlichen Wirkens und nach seinem spektakulären Kreuzestod nimmt die Gottesmutter ihren toten Sohn zurück, gibt ihm Schutz und Trost, wie sie es immer getan hat. Von Anbeginn an. Als könnte sie ihm noch ein letztes Mal Geborgenheit schenken in ihren den Leichnam umschließenden Armen. So als wolle sie dieses unglaubliche Geschenk eines Kindes nie wieder loslassen. Ihren Sohn: alles, wofür sie gelebt hatte.

"Es ist, als ob das Kind einem noch einmal vom Nabel abgeschnitten wird. Das erste Mal zum Leben, jetzt zum Tod." Mit diesen Worten beschreibt Käthe Kollwitz zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Gefühle, als sie die ersten Entwürfe zu einer Pietà aus Bronze skizziert, ohne zu ahnen, dass sie ein paar Jahre später ihren Sohn Peter gleich am zweiten Tag seines Fronteinsatzes 1914 in Flandern verlieren würde und damit schon früh die Themen Abschied, Verlust und Trauer Besitz von der Künstlerin ergreifen sollten.

Die Trauer bleibt zeitlebens im Herzen zurück

Mutter und Sohn verschmelzen zu einer Figur, sind eins. Wie selbstverständlich bettet die Frau ihren zusammengesunkenen Sohn in ihrem Schoß, klammert sich an ihn und hat ihn doch losgelassen. Eine zweite Geburt, jetzt ein Freigeben zum Tod. Nur seine Hand hält sie in einer unendlich liebevoll-zärtlichen Berührung. Kopf und Leib sind in ein Tuch gehüllt, Schutzmantel für sie selbst und gegen alles, was diese letzte innige Begegnung mit dem Sohn stören könnte. Sein Kopf ist zurückgefallen und an ihre Brust gelehnt. Mutter und Sohn bilden eine gemeinsame Silhouette. In der Bildtradition der "Melancholia" hält sie, den Ellbogen auf ihr Knie stützend, ihre rechte Hand nachsinnend und gleichzeitig fassungslos ob des unendlichen Schmerzens vor den Mund. Dabei schaut die Mutter nicht auf den Sohn, sondern ist mit geschlossenen Augen in sich gekehrt und dennoch eins mit ihrem Kind. Das ist kein intellektuelles "Auf dass sich die Schrift erfüllen möge", kein "Sich panzern gegen das Leid", sondern ein fast übermenschliches "Sich Ergeben in den Willen Gottes", bei dem die Trauer nach innen geht, zeitlebens im Herzen zurückbleibt.

"Schaut ihm ins Gesicht!", möchte man rufen. Da ist ein Mensch, und alle Not von Einsamkeit, von Leid und Tod ist um ihn. Da ist ein Gesicht, eines wie das Deine und meine, und man hat in ihm ausgelöscht, was nur auszulöschen war an Ehre, Hoheit und Würde. Übrig geblieben ist die Ohnmacht, die Schmach, die wehrlose Auslieferung an die rohe Gemeinheit und Brutalität. Es ist aus mit ihm. Da brechen Augen und werden zu Gruben, aus denen die Nacht steigt. Im Erlöschen ihres Glanzes haben sie eine Welt ärmer gemacht um den Schimmer letzter Hoffnung. Die Wangen sind eingefallen. Der Mund steht im Erstaunen offen und hat keine Kraft mehr auf den Lippen – weder zur Klage noch zur Anklage. Er ist stumm, keines Wortes mehr fähig. Fraglos und mutlos. Sein letzter Hauch darüber ist erfroren. Dann die verdeckte Stirn mit den Narben der stechenden Dornen.

Golgata ist nicht vorbei, es ist überall

Wer hat uns eigentlich so stumpf gemacht, dass wir das ansehen können, ohne zu erschrecken, ohne betroffen zu sein? Was ist mit uns geschehen, dass wir ein solches Leid hinnehmen können und uns dabei nicht einmal die geringste Empörung streift? Dass wir solche Schändung ertragen, die einem Menschen widerfahren ist? Dass wir nicht vor Mitgefühl erstarren, weil eine Mutter ihr Kind verliert? Dass wir nicht einmal bemerken, wie sehr dieses Gesicht dem Gesicht gleicht, das wir gestern oder heute sahen in einer Lache von Blut samt einem Körper mit verdrehten Gliedmaßen in den Straßen und Trümmern von Mariupol, Charkiw oder Butscha – irgendwo zwischen den Schlagzeilen einer Zeitung oder den huschenden Bildern einer Nachrichtensendung?

Dieser Gruppe "Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz geht das schrecklichste Geschehen voraus, das Menschen sich ausdenken können, das der Mensch dem Menschen antun kann. Es ist 2000 Jahre alt. Und dennoch: Golgata ist nicht vorbei. Im Gegenteil, es ist überall: in der Ukraine, in Syrien oder Afghanistan – und manchmal auch nebenan, was wir nicht immer mitbekommen. Sicher, viele sind betroffen, wenn sie all die furchtbaren Bilder des Schreckens sehen, die Katastrophen und Kriege: Tausende mit letzter Habe auf der Flucht ins Ungewisse, Zahllose zusammengetrieben wie Schlachtvieh unter den Knüppeln diktatorischer Macht und gezündeter Bomben. Hunderte begraben unter den Trümmern eines Raketenangriffes. Denn "Kreuz tragen" in unserer Zeit hat unzählige Gesichter. Und jeder tote Sohn, der nicht nur eine Zahl ist, sondern ein Antlitz hatte, fehlt von nun an schmerzlich.

Wer schlägt sich an die eigene Brust?

Zweifelsohne, viele erregen sich. Sie machen sich auf zu Protestmärschen gegen Unterdrückung und Folter. Sie malen Transparente gegen Bedrohung des Lebens und gegen die Zerstörung der Umwelt. Sie verfassen Resolutionen gegen Willkür und Ausbeutung, Diskriminierung und Verschleppung von Wehrlosen. Sie veranstalten Streiks mit Schlagstöcken und Knüppeln, Aufstände der Ohnmacht gegen Gewalt, Anklage vor den Tribunalen der Völker. Flammende Reden, Schreie der Empörung, Friedensmärsche.

Wer aber tritt vor das Antlitz Jesu? Wer macht sich auf zu dem, der all dies vorweggenommen und vorausgelitten hat? Wer hält ein in seiner Aufgeregtheit und nimmt den Finger zurück von den Schuldigen, die er entdeckt hat, um an die eigene Brust zu schlagen? Wer wird still und bedenkt zur Abwechslung einmal sich selbst? Was nutzt alles Aufbegehren, was hilft aller Widerstand, alles Fragen nach dem Warum und Wieso? Was soll alle Anklage gegen die Welt, wenn wir nicht anfangen einzugestehen, woran wir selbst schuldig geworden sind, wenn wir unsere eigene Schuld zuallererst verdrängen? Wie kann es sein, dass wir uns über die Schuld von anderen empören, uns aber das Recht herausnehmen, das eigene Versagen zu ächten, es zu Kavaliersdelikten zu erklären oder zu Betriebsunfällen menschlicher Unvollendung?

Nein, nicht von sich selbst ablenken! Und nicht wegschauen, niemals wegsehen, wenn sich Unrecht Bahn bricht, zigtausende schuldlos sterben – wo auch immer auf der Welt. Wer sich in die Betrachtung einer Pietà wie dieser versenkt, der sieht nicht nur eine Frau, die selbst im Erlebnis der totalen Katastrophe ihre Würde behält. Der ahnt auch – wenn er sich denn auf diese ganz besondere Leidensgeschichte von Mutter und Sohn einlässt – etwas vom Geheimnis der Auferstehung, das in diese intime Szene des "Es ist vollbracht" hineingewoben ist. Und von einem Glauben, der dem Karfreitag unseres Lebens standhält.

Karfreitag 2022

An Karfreitag gedenken die Christen des Leidens und Sterbens Jesu. Theologisch ist der Feiertag untrennbar mit Ostern als dem Fest der Auferstehung verbunden. Das Wort "Kar" kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet "Kummer". Neben Aschermittwoch ist dies der einzige Tag, der in der katholischen Kirche als strenger Buß- und Fasttag gilt.

Am Nachmittag - zur Stunde der Kreuzigung - findet ein in dieser Art im Jahreskreis einmaliger Wortgottesdienst mit Kommunionausteilung statt, in dessen Mittelpunkt die Leidensgeschichte Jesu steht.

Karfreitag: Jesus wird ans Kreuz genagelt (dpa)
Karfreitag: Jesus wird ans Kreuz genagelt / ( dpa )
Quelle:
DR