Bedenklicher Einsatz von Psychopharmaka in Pflegeheimen

Weniger Pillen, mehr Zuwendung in Pflegeheimen

Pflegeheimbewohner und vor allem Demenzpatienten bekommen häufig viele Medikamente, die vermeintlich dabei helfen, ihr Verhalten zu regulieren. Ein Projekt der Caritas will zeigen, dass es auch mit weniger Psychopharmaka gehen kann.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Eine Handvoll Medikamentenpackungen / © Ina Rottscheidt (DR)
Eine Handvoll Medikamentenpackungen / © Ina Rottscheidt ( DR )
Peter Land und Sigrid Kuhnert / © Ina Rottscheidt (DR)
Peter Land und Sigrid Kuhnert / © Ina Rottscheidt ( DR )

Manchmal, wenn Peter Land seiner Schwiegermutter kölsche Lieder vorsingt, huscht ein Lächeln über das runzelige Gesicht von Sigrid Kuhnert. Dann ist sie für einen kurzen Moment in dieser Welt. Doch diese Momente werden immer seltener: Die 88-Jährige hat Demenz im fortgeschrittenen Stadium: "Ich denke, dass sie nicht mehr weiß, wer wir sind", sagt ihre Tochter Kerstin Land. "Dabei war sie so eine gebildete Frau, hat die Welt bereist und Arabisch gelernt. Doch jetzt weiß man nicht mehr, was in ihrem Kopf vorgeht."

Kerstin Land und ihre Mutter / © Ina Rottscheidt (DR)
Kerstin Land und ihre Mutter / © Ina Rottscheidt ( DR )

Die betagte Dame sitzt in ihrem Rollstuhl und blättert abwesend in Reiseprospekten herum. Manchmal ruft sie ein lautes "Hallo!" oder "Bittebitte!" in den Raum, Peter und Kerstin Land kennen das schon. Vor fünf Jahren bekam Sigrid Kuhnert die Diagnose. Seit 2020 wohnt sie im Resi Stemmler Haus in Euskirchen, eine Pflegeeinrichtung ausschließlich für Demenzkranke. Darüber sind die Lands sehr froh: Nicht nur, weil sich die Frau wohlzufühlen scheint, sondern auch, weil man dort auch auf Einsatz von Psychopharmaka verzichtet.  

Ruhig stellen mit Medikamenten?

Früher, in anderen Einrichtungen, habe seine Schwiegermutter immer reichlich bekommen, oft sei sie wie weggetreten gewesen, erinnert sich Peter Land: "Sie hatte an nichts mehr Interesse und wollte auch nicht mehr aufstehen. Wie ein Zombie!" Im Resi Stemmler Haus in Euskirchen hat man diese Medikamente dann schrittweise auf null reduziert. Das Ehepaar Land bemerkte den Unterschied sofort: "Sie war viel lebhafter und hat uns sofort erkannt. Das konnte sie damals noch", erzählt die Tochter.

Häufig bekommen Menschen mit einer Demenz Psychopharmaka, um vermeintliche Verhaltensstörungen abzudämpfen. Bei Unruhe, aggressiv wirkendem Verhalten, Weglauftendenzen oder Schlafstörungen haben sie zunächst eine dämpfende Wirkung. "Aber sie erhöhen auch die Sturzgefahr, weil sie Schwindel und Bewegungsstörungen hervorrufen. Und sie beeinträchtigen die geistigen Fähigkeiten der Menschen", sagt Lydia Kassing, Leiterin des Resi Stemmler Hauses. Darum bekommen die Bewohner in ihrer Einrichtung keine Psychopharmaka.

Lydia Kassing, Leiterin des Resi Stemmler Hauses / © Ina Rottscheidt (DR)
Lydia Kassing, Leiterin des Resi Stemmler Hauses / © Ina Rottscheidt ( DR )

Bedürfnisorientierte Pflege

Im Resi Stemmler Haus wird personenzentriert gepflegt und nicht verrichtungsorientiert: Das bedeutet, dass die Bewohner essen, schlafen und aufstehen dürfen, wann sie wollen. Und dass das Pflegepersonal versucht, auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, auch wenn diese das nicht mehr äußern können. "Dieses so genannte "herausfordernde Verhalten" ist immer die Herausforderung für die Pflegenden", erklärt Lydia Kassing. "Aber es ist letztlich ein Ausdrucksverhalten und hat immer einen Grund und das ist nicht die Demenz!" Es können Schmerzen dahinterstecken, die der Betroffene nicht mehr artikulieren kann. Manche stehen nachts auf, weil sie hungrig sind oder schlagen aus Angst oder Überforderung um sich. Das seien wichtige Signale, die man ernst nehmen und auf Ursachenforschung gehen müsse, sagt Kassing.

Überraschenderweise ist das nicht aufwändiger. Der Personalschlüssel im Resi Stemmler Haus ist wie in vergleichbaren Einrichtungen. Das bestätigt auch Sarah Mayer. Die junge Frau ist dort die Medikamentenbeauftragte und Ansprechpartnerin für ihre Kolleginnen und Kollegen, wenn es Probleme gibt. Sie verabreicht Medikamente zur Entlastung, etwa für den Blutdruck oder zur Entwässerung, aber niemals Psychopharmaka. "Weil sie den Menschen und sein Verhalten verändern, er ist nicht mehr er selbst. Wir versuchen immer zu schauen, was hinter dem Verhalten steckt." Und das funktioniere sehr gut, erzählt sie: "Eigentlich ist es weniger Arbeit. Wenn ich Psychopharmaka verabreiche, muss ich ständig kontrollieren, wie der Menschen darauf reagiert, das macht mehr Arbeit, als ihn zu lassen, wie er ist."

Pilotprojekt der Caritas

Das Resi Stemmler Haus in Euskirchen beteiligt sich an dem Projekt OPESA ("Optimierung des Psychopharmaka-Einsatzes in der stationären Altenpflege"), das Ende 2021 von den Diözesan-Caritasverbänden Köln und Paderborn begonnen wurde, um das Medikamentenmanagement und den Einsatz von Psychopharmaka in der Altenpflege bedarfsgerechter zu gestalten. "Da muss unbedingt etwas getan werden", sagt Dr. Frank Johannes Hensel, Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Köln und selbst Mediziner.

Dr. Frank Johannes Hensel (Diözesan-Caritasverband Erzbistum Köln)

Häufig würden Medikamente eher großzügig verordnet und aus Gewohnheit, ohne dass im Verlauf geprüft würde, ob sie noch nötig sind, erzählt er. Manchmal fehle es auch an Kommunikation der unterschiedlichen Haus- und Fachärzte, die eine Einrichtung betreuen, untereinander und mit dem Pflegepersonal. Das zu optimieren, sei Ziel des Projektes. Dafür werden Pflegefachkräfte zusätzlich qualifiziert und als Medikamentenbeauftragte in ihrer Einrichtung eingesetzt.

Zufriedeneres Personal

Insgesamt 16 Pflegeheime aus den beiden Diözesen beteiligen sich an dem Pilotprojekt, das bis August 2023 läuft. Danach werden die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst und anderen Häusern zur Verfügung gestellt. Auch Caritas-Chef Hensel unterstreicht: Dafür brauche es nicht mehr Personal, und dass ruhig gestellte Heimbewohner einfacher zu betreuen sind, sei Unsinn: "Das Gegenteil ist richtig: Wer ruhiggestellt ist, kann seine Bedürfnisse nicht mehr äußern. Es gibt Untersuchungen drüber, dass es sich nicht auszahlt, wenn die Leute zu sehr gedämpft sind!" Qualifizierung sei das A und O: "Wir brauchen Leute, die wissen, warum man etwas gibt und warum man vielleicht auch mal was weglassen kann!" Forschung und Erfahrung zeigten, dass an vielen Stellen der Medikamenteneinsatz reduziert werden könne.

Resi Stemmler Haus Euskirchen / © Ina Rottscheidt (DR)
Resi Stemmler Haus Euskirchen / © Ina Rottscheidt ( DR )

Ein wichtiger Nebeneffekt ist auch die Zufriedenheit beim Personal, sagt Einrichtungsleiterin Kassing, "weil die Pflegekräfte sich wieder mehr den Menschen zuwenden können und nicht wie ein ICE über die Etagen rauschen müssen." Sie ist überzeugt: "Menschen mit Demenz brauchen Begleitung und Verständnis. Nur weil sie eine Demenz haben, müssen sie nicht sediert werden. Das funktioniert und die Menschen haben mehr Lebensqualität."

Mehr Lebensqualität für die Zeit, die noch bleibt: Dafür ist auch Familie Land dankbar: "Die Krankheit lässt sich ja nicht aufhalten", sagt Peter Land, "aber wir sind froh, wenn es einmal am Tag ein Lächeln gibt. Und wenn es zwei oder drei gibt, ist es noch besser."

Quelle:
DR