Laut Experten kommt Spiritualität in der Pflege zu kurz

"Eine unterschätzte Ressource"

"Spiritual Care", also die Behandlung spiritueller Bedürfnisse, gehört international zur umfassenden Gesundheitsversorgung. Doch hierzulande ist sie kaum beachtet. Was sind die Gründe und wie kann Abhilfe geschaffen werden?

Autor/in:
Christoph Scholz
Pflegepersonal im Krankenhaus / © Rob Engelaar/ANP (dpa)
Pflegepersonal im Krankenhaus / © Rob Engelaar/ANP ( dpa )

Der Begriff "Spiritual Care" klingt im deutschen Gesundheitswesen immer noch fremd. Geht es um spirituelle Begleitung, so wird der Seelsorger gerufen.

Für die Weltgesundheitsorganisation gehört "Spiritual Care" aber längst zur ganzheitlichen Versorgung Schwerstkranker und Sterbender. Denn neben der "Behandlung von Schmerzen hätten die Betreffenden eben auch Bedürfnisse "spiritueller Art".

Umfassenderes Verständnis von Gesundheit

In dieser Definition spiegelt sich nicht nur ein umfassenderes Verständnis von Gesundheit, sondern auch eine weltanschaulich plurale Gesellschaft. Seit 2020 bildet die Diakonie in dem 40-Stunden-Programm "Spirituelle Begleitung am Lebensende (SpECi)" Pflegekräfte aus. Am Donnerstag wurde auf einer Fachtagung in Berlin eine erste Bilanz gezogen. Sie stand unter dem Motto: "Spiritualität eine unterschätzte Ressource". 

Ein Seelsorger sitzt am Krankenbett und spricht mit einer Frau auf der Palliativstation in der Universitätsklinik Bonn / © Harald Oppitz (KNA)
Ein Seelsorger sitzt am Krankenbett und spricht mit einer Frau auf der Palliativstation in der Universitätsklinik Bonn / © Harald Oppitz ( KNA )

In der Tat stellt sich bei den meisten zunächst die Frage, was mit dem Begriff überhaupt gemeint ist. "Wir sind weit mehr als unsere Biologie, sondern wir tragen in uns eine wichtige Ressource, die wir nutzten können, die wir Geist, Gott oder Spiritus nennen", so der Transplantationschirurg und Ethiker Eckhard Nagel. Als bekennender Protestant stehe er zum christlichen Gott, so Nagel. Der Begriff umfasse aber auch andere Gottesvorstellungen.

Personal fehlt Zeit, Wissen und Courage 

Arndt Büssing, Wissenschaftler an der Universität Witten/Herdecke, der das Ausbildungsprogramm wissenschaftliche auswertete, geht von einem noch weiteren Verständnis aus. Er sah darin allgemein das Bedürfnis nach Sinn, den Wunsch nach Lebensfülle, innerem Frieden, oder Generativität, also etwas hervorbringen zu wollen. Grundfragen des Glaubens sah er eher bei der älteren Generation. 

Nach seinen Erkenntnissen bleiben die spirituellen Bedürfnisse von Patienten oft unerkannt oder unausgesprochen. Als Gründe nannte er etwa das Fehlen von Zeit, Wissen oder Courage beim Gesundheitspersonal. Hinzu kämen Stress und die Unklarheit darüber, wer eigentlich zuständig sei: Seelsorger, Psychologen, Mediziner oder Sozialarbeiter. Laut einer Umfrage ist es aber 37 Prozent der ambulant behandelten Schmerzpatienten in Deutschland wichtig, mit ihrem Arzt auch über spirituelle Bedürfnisse zu reden. Nur 23 Prozent wenden sich in dieser Frage an Pfarrer oder Seelsorger. 

Entfremdung in beide Richtungen

Nagel führte die Vernachlässigung der geistig-seelischen Dimension des Patienten geschichtlich auf den Siegeszug der Wissenschaften zurück. Die großartigen Erfolge der Medizin hätten gleichzeitig zu einer materialistisch verengten Sichtweise auf den Kranken geführt. Damit sei die ganzheitliche Sicht von Heilung und Heil im christlichen Verständnis verloren gegangen, obgleich gerade hieraus die Gesundheitsversorgung hervorgegangen sei. 

Kreuz im Flur eines Krankenhauses / © Dieter Mayr (KNA)
Kreuz im Flur eines Krankenhauses / © Dieter Mayr ( KNA )

Als jüngstes Beispiel dieser Entwicklung nannte er die Pandemie. Hier hätten die meisten nicht mehr bei Kirche und Religion, sondern bei der Wissenschaft nach Orientierung gesucht. Die Kehrseite ist allerdings laut Nagel eine Entfremdung: "Viele Menschen haben das Vertrauen in das System der Medizin verloren, "weil nicht hinreichend Zeit, Begegnung oder Kommunikation besteht".

Spirituelle Begleitung in der Pflege verankern

So war es auch kein Zufall, dass 87 Prozent der befragten Fachkräfte, die am Pilotprojekt teilnahmen, sich mehr Zeit für Gespräche über spirituelle Bedürfnisse wünschten. 85 Prozent gaben laut Büssing an, sicherer mit den spirituellen Bedürfnissen von schwerkranken und sterbenden Patienten umzugehen. Ebenso viele erklärten, dass sie nun deutlich häufiger auf diese Bedürfnisse eingingen. 

Ulrich Lilie / © Harald Oppitz (KNA)
Ulrich Lilie / © Harald Oppitz ( KNA )

"Bis heute fehlen für Spiritual Care angemessene Zeit- und Personal-Ressourcen", beklagte Büssing. Dieser Mangel lasse "die Ideale derjenigen ausbrennen, die bereits jetzt schon am Limit arbeiten", so sein Fazit.

Der Präsident des evangelischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Lilie, verlangte, spirituelle Begleitung zum festen Bestandteil der Ausbildung medizinischer und pflegerischer Berufe zu machen. "In einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft mit immer diverser werdenden Vorstellungen von einem guten Lebensende bekommt die spirituelle Begleitung eine immer wichtigere Rolle", so der Diakoniepräsident.

Quelle:
KNA