Bedarf an Lebensberatung steigt in Krisenzeiten

"Seismographen der Gesellschaft"

Kaum jemand nennt die großen Krisen der Welt als direkten Grund, um eine Beratungsstelle aufzusuchen. Das Dauerrauschen von Pandemie, Krieg oder Klimawandel verstärkt laut Fachleute dennoch die persönliche Belastung.

Autor/in:
Paula Konersmann
Symbolbild Psychologische Beratung / © New Africa (shutterstock)
Symbolbild Psychologische Beratung / © New Africa ( shutterstock )

"Die Krise ist ein normaler Bestandteil unseres Lebens geworden." So formuliert es Andreas Zimmer, Leiter der Abteilung Beratung und Prävention im Generalvikariat des Bistums Trier.

Nicht nur dort beobachtet man einen steigenden Bedarf an Lebensberatung. Auch die Telefonseelsorge mahnte vor Kurzem, ihr Angebot müsste ausgebaut werden, um der steigenden Frequenz an Gesprächen gerecht zu werden.

Die Themen ähneln sich: Einsamkeit und Krankheiten, Trennungen und persönliche Konflikte, Überlastung und Selbstwertprobleme.

Konflikte kommen in Krisenzeiten mehr zum Tragen

Beratungsstellen seien "Seismographen der Gesellschaft" – das sagte die Leiterin der Ehe-, Familien und Lebensberatung im Bistum Dresden-Meißen, Eva-Maria Ritz, einmal der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).

"Konflikte finden natürlich jederzeit statt, aber sie treten in Krisen schneller und stärker zutage." Auch werde der Ton in der Beratung schärfer, so die Expertin.

Viele Menschen fänden keinen Abstand mehr zu Gefühlen wie Angst und Frustration, beobachtet auch der Philosoph Michael Bordt.

Durch eine gereizte Grundstimmung in der Gesellschaft verstärkten sich wiederum persönliche Krisen: "Die gesellschaftliche Situation läuft bei allem wie ein Grundrauschen mit", sagte Bordt kürzlich im Deutschlandfunk. Der Jesuit war lange Präsident der Hochschule für Philosophie in München.

Die Psychologin Christiane Blank sieht ebenfalls einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Stimmung und dem Befinden des Einzelnen.

"Durch die hereinbrechenden Ereignisse wie Pandemie, Krieg in der Ukraine, Umweltprobleme, wirtschaftliche und politische Instabilität wird sich der Einzelne vermehrt seiner Verletzlichkeit bewusst", sagte sie der KNA.

Da vielfach Wettbewerb und Leistung vorrangig seien, fehlten in Krisensituation zudem oft Ansprechpartner, "denen man seine Ängste, Zweifel und Schwächen anvertrauen kann".

Beratung und Telefonseelsorge sind mehr gefragt

Wenig überraschend also, dass Beratungsstellen und Telefonseelsorge zunehmend kontaktiert werden. Blank, die als Theologin 25 Jahre an der Päpstlichen Theologischen Fakultät von Sao Paulo lehrte, verweist auf einen drastischen Umschwung: Viele Menschen fühlten sich verunsichert, nachdem lange Zukunftseuphorie geherrscht habe.

"Durch den technischen Fortschritt schien es nur eine Frage der Zeit, die anstehenden Probleme zu lösen. Der Mensch fühlte sich fähig, durch sein Handeln alles in den Griff zu bekommen."

Die Komplexität der Prozesse sei jedoch unterschätzt worden, so Blank: "Das Versprechen, durch Konsum, Aufstieg, Sozialprestige und Besitz wichtiger Statussymbole zu Glück und einem besseren Leben zu gelangen, entpuppt sich als Illusion."

Mitunter versuchten Menschen zwar weiterhin, durch momentanen Genuss zu vergessen – verpassten damit aber "nicht selten die Gelegenheit, sich auf einen Neuanfang hin zu öffnen, um kreative Alternativlösungen zu finden."

Bordt appelliert, einen Fuß in die Tür zwischen Reiz und Reaktion zu bekommen. Wer sich von Emotionen leiten lasse, tue unter Umständen nicht mehr das, was er eigentlich für richtig halte – und was ein selbstbestimmtes Leben ausmache: "Selbstbestimmtes Leben bedeutet, angesichts der Situation und der Strukturen das zu tun, was ich besten Wissens und Gewissens tun kann."

Wenn dagegen eine "Sicherung durchbrenne", handle man nicht selbstbestimmt, sondern getrieben.

Forderung nach positiven Utopien

Doch wie kann das gelingen angesichts jener Konflikte in der Welt, auf die der Einzelne kaum Einfluss hat? "Je größer die Krise, desto mehr braucht es ein Umdenken und eine positive Zukunftsvision", betont Blank.

Es gelte sich zu fragen, was gerettet werden könne und wie ein Neuaufbau oder neue Perspektiven aussehen könnten, zum Beispiel: "Entspricht die Konsum- und Wettbewerbsgesellschaft wirklich den Bedürfnissen der Menschen?"

Neben "mutigen Utopien" brauche es Tatkraft und Entschlossenheit. Blank rät zu Entschleunigung und bewusstem Erleben, aber auch zu solidarischem Handeln und dem Einsatz etwa für Klima und Umwelt. Ein radikales Umdenken sei schlichtweg notwendig: Denn Krise bedeute, "dass nicht mehr so weitergefahren werden kann wie bisher."

Anlaufstellen für Betroffene und Angehörige in Krisen

Wer in eine psychische Krise gerät und alleine nicht mehr herausfindet, sollte sich möglichst rasch Hilfe suchen. Dies ist wichtig, um zunächst abzuklären, ob es sich um eine psychische Erkrankung handelt, die behandelt werden muss.

- Erster Ansprechpartner bei Verdacht auf eine Depression oder Suizidgedanken ist der Hausarzt, Psychiater oder Psychologische Psychotherapeut.

Eine Frau sitzt mit beiden Händen vor dem Mund vor einer in der Unschärfe sitzenden zweiten Frau, die sich auf einem Stück Papier mittels Klemmbrett und Stift Notizen macht. (Symbolbild: Psychotherapie) / © Andrii Spy_k (shutterstock)
Eine Frau sitzt mit beiden Händen vor dem Mund vor einer in der Unschärfe sitzenden zweiten Frau, die sich auf einem Stück Papier mittels Klemmbrett und Stift Notizen macht. (Symbolbild: Psychotherapie) / © Andrii Spy_k ( shutterstock )
Quelle:
KNA