Als im März 2020 das erste Mal das gesamte öffentliche Leben in Deutschland durch den Lockdown zum Stillstand kam, wussten wir nicht wirklich, was genau auf uns zukommt. Wir alle hatten die schrecklichen Bilder vor Augen von sterbenden Menschen in anderen Teilen der Welt, vor allem im italienischen Bergamo. Dort hatte sich das Virus bereits ausgebreitet. Das wollten wir auf jeden Fall verhindern.
Der Lockdown war etwas, was bis dahin noch niemand von uns erlebte. Für uns Entscheidungsträger gab es kein Lehrbuch, wie man eine Pandemie bewältigt. Eines war aber sicher: Der Lockdown war mit tiefgreifenden Einschnitten in die Grundrechte der Menschen verbunden. Schulen und Universitäten wurden geschlossen, Verwaltungen konnten nur noch mit minimaler Besetzung arbeiten, Unternehmen setzten ihre Beschäftigten auf Kurzarbeit und schickten Mitarbeiter ins Homeoffice. Besonders betroffen war die Gastronomie und der Tourismus, Restaurants und Hotels sind auf Gäste angewiesen.
Sterben ohne seelsorgerische Begleitung
Aber auch Kirchen und Religionsgemeinschaften waren betroffen. Das Abhalten von Gottesdiensten, das gemeinsame Gebet und die Seelsorge gehören zur Freiheit der Religionsausübung. Als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bedrückte es mich ganz besonders, dass viele Menschen in Krankenhäusern und Altenheimen allein waren und oft auch allein starben, ohne Familienangehörige und ohne seelsorgerische Begleitung.

Nicht umsonst habe ich damals von der "schwersten Bewährungsprobe in der Geschichte unseres Landes" gesprochen. Damals berief ich einen "Expertenrat Corona" ein. Renommierte Experten wie Verfassungsrechtler Udo di Fabio, Philosoph Otfried Höffe, Soziologe Armin Nassehi, Ethikprofessorin Christiane Woopen, Virologe Hendrik Streeck und Monika Kleine vom Sozialdienst Katholischer Frauen in Köln berieten gemeinsam mit der Landesregierung darüber, wie die Pandemie am besten zu bewältigen sei. Dazu gehörten also nicht nur Mediziner, sondern auch Juristen, Ökonomen, Wirtschaftswissenschaftler, Philosophen und Sozialpädagogen. Mir war bewusst, dass die Pandemie nicht allein durch den Rat der Virologen zu bewältigen war.
Freiwilliger Konsens, auf Gottesdienste zu verzichten
Dennoch haben wir uns rückblickend wohl zu sehr auf die medizinische Seite des Virus konzentriert, auf Inzidenzen, auf Tests und Impfungen, auch wenn es ein Glück war, dass wir schnell einen Impfstoff hatten. In den Blickpunkt hätten wir unter anderem auch stärker die psychologischen Folgen für die gesamte Gesellschaft, die Belastungen für Kinder und Jugendliche, die bis heute nachwirken, nehmen sollen. Wir in Nordrhein-Westfalen haben keine Synagogen, Kirchen und Moscheen wie in allen anderen Ländern per Verordnung geschlossen, sondern ich habe mit den Religionsgemeinschaften einen freiwilligen Konsens erzielt, vorübergehend auf Gottesdienste zu verzichten. Das war mir wichtig: Der Staat darf keine Gottesdienste untersagen.
Und: Wir haben keine Grenzen geschlossen, sondern grenzüberschreitend mit den Gesundheitsämtern zusammengearbeitet. Die deutsch-niederländische Grenze war die einzige offene Grenze und unsere Bilanz kann sich sehen lassen.
Polarisierung unserer Gesellschaft hat zugenommen
Seit der Corona-Pandemie erlebe ich, dass die Polarisierung unserer Gesellschaft zugenommen hat. Die Stimmung ist aggressiver, das Vertrauen in den Staat ist gesunken. Wir hätten offener und transparenter damit umgehen sollen, dass Politiker, Wissenschaftler und Juristen oft auch unterschiedlicher Meinung waren. Die im Nachgang veröffentlichten Protokolle des Robert-Koch-Instituts zeigen das. Es befördert Misstrauen und Verschwörungstheorien, wenn jeder, der eine Maßnahme bezweifelt, als Corona-Leugner gilt. In Wahrheit gab es viel dazwischen.
Die Frage, wie weit Einschränkungen von Grundrechten in der Pandemie wirklich notwendig waren, bedarf nach wie vor einer Aufarbeitung. Dafür habe ich eine Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag vorgeschlagen. Das Ziel dieser Kommission sollte nicht darin bestehen, Schuldige auszumachen, sondern aus der Aufarbeitung heraus zu lernen. Das würde Vertrauen wiederherstellen, die Gesellschaft befrieden und die Menschen nicht den Populisten überlassen.
Der Autor: Armin Laschet ist CDU-Abgeordneter im deutschen Bundestag. Von 2017 bis 2021 war er Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Er ist ausgebildeter Journalist und leitete von 1991 bis 1994 als Chefredakteur die Aachener Kirchenzeitung.