Wie aus dem großen Kirchenstaat der kleine Vatikan wurde

Als man dem Papst seinen Staat nahm

Vom Kirchenstaat sind heute nur noch wenige Straßenzüge übrig. Fast 1.000 Jahre haben die Päpste über ein viel größeres Staatsgebiet geherrscht.

Schweizergardisten im Vatikan / © AM113 (shutterstock)

Bis italienische Truppen im September 1870 Rom einnahmen und die päpstliche Armee kapitulierte.

DOMRADIO.DE: Wie kam es zur Gründung des Kirchenstaates?

Ulrich Nersinger (Vatikanexperte): Der Kirchenstaat umfasste fast ganz Mittelitalien – er reichte bis nach Bologna hin. Es war also ein gar nicht so unbedeutendes Staatswesen.

Der Papst war der absolute Monarch, der absolute Herrscher. Er hatte diese Aufgabe im ersten Jahrtausend aus zwei Gründen übernommen. Der erste Grund war: Die römischen Kaiser hatten sich ja sehr schnell von Italien verabschiedet und waren nach Konstantinopel gezogen. Sie hinterließen auf der italienischen Halbinsel ein Machtvakuum. Das musste irgendwann gefüllt werden, denn es gab Überfälle zu See und zu Lande. Da sahen sich die Päpste in die Pflicht genommen – und das war somit die Grundlage des Kirchenstaates.

Der zweite Grund, warum die Päpste auf einen eigenen Staat bis zum Jahre 1870 und natürlich darüber hinaus bestanden, war, dass sie unabhängig sein wollten. Sie wollten nicht von irgendeiner anderen staatlichen Macht eingeengt werden in ihrer Verantwortung für die Weltkirche.

DOMRADIO.DE: Was ist denn passiert, dass dieser Kirchenstaat dann zerschlagen wurde?

Nersinger: Man muss da etwas in die Geschichte zurückgehen: Als die napoleonische Herrschaft in Europa zusammenbrach, hat der Wiener Kongress 1815 das alte Gefüge des Kontinents wiederhergestellt - darunter auch den Kirchenstaat. Aber das war eine Zeit, in der in Europa nationalstaatliche Tendenzen da waren. In Deutschland kamen so die ersten Überlegungen auf, einen Einheitsstaat zu schaffen - und in Italien erst recht. In Italien finden wir dafür den Begriff des "Risorgimento". Man wollte aus den zahlreichen Kleinstaaten Italiens einen Einheitsstaat machen. Da war der Kirchenstaat im Wege.

DOMRADIO.DE: War das eine blutige Angelegenheit?

Nersinger: Teilweise war es eine blutige Angelegenheit. Wir hatten 1848 eine Revolution im Kirchenstaat, die fast noch im gleichen Jahr niedergeschlagen wurde. Dann wurde dem Papst 1860 in blutigen Schlachten eine große Provinz im Norden des Kirchenstaates genommen, als die Österreicher sich aus Italien zurückzogen. 1867 versuchten Freischärler unter Garibaldi in den Kirchenstaat einzufallen. Das war auch kein einfaches Unterfangen, diese Gefahr abzuwehren.

1870 dann – der letzte Akt – war dann weniger blutig. Es gab Tote, es gab viele Verletzte, aber das hielt sich noch in Grenzen. Die päpstliche Armee bestand damals aus 13.000 Mann – und die Italiener, die sich rings um die Stadt versammelt hatten, konnten 60.000 Mann aufweisen. Da war klar, dass man nur einen symbolischen Widerstand leisten konnte, denn alles andere wäre in einem Blutbad geendet.

DOMRADIO.DE: Wie kam es dann zur Gründung des Vatikanstaats?

Nersinger: Die Päpste haben sich immer geweigert, diesen Akt anzuerkennen und sahen darin eine Verletzung des Völkerrechts – was es auch war. Sie haben sich dann als freiwillige Gefangene in den Vatikan zurückgezogen und haben weiterhin darauf bestanden, ein – zumindest irgendwie – staatliches Gefüge zu bekommen. Man hat ihnen zwar zugesichert, dass man den Vatikan niemals besetzen würde, aber das war ihnen zu wenig.

Deshalb haben sie immer darauf bestanden, dass sie doch ein eigenes Staatsgefüge haben müssen. Das war eine sehr schwierige Wunde, die zwischen Italien und der Kirche entstand. Diese Wunde konnte erst 1929 geschlossen werden, indem man sich mit Italien versöhnte und diesen winzigen Kleinstaat schuf. Der Vatikan war die Voraussetzung für den Papst, frei und unabhängig von einer anderen Regierung zu wirken.

Das Interview führte Dagmar Peters.

 

Ulrich Nersinger / © privat
Ulrich Nersinger / © privat
Quelle:
DR
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