Schavan blickt in neuem Buch auf die Amtszeit Angela Merkels

"Alles hat seine Zeit"

Angela Merkel steht für eine menschenfreundliche und zukunftsfähige Politik. Das schreibt Papst Franziskus in seinem Geleitwort zum Buch "Die hohe Kunst der Politik: Die Ära Angela Merkel". Herausgegeben hat es Annette Schavan.

Bundeskanzlerin Angela Merkel / © Michael Kappeler (dpa)
Bundeskanzlerin Angela Merkel / © Michael Kappeler ( dpa )

DOMRADIO.DE: Angela Merkel steht für eine menschenfreundliche und zukunftsfähige Politik. Das schreibt kein geringerer als Papst Franziskus in seinem Geleitwort zum Buch "Die hohe Kunst der Politik: Die Ära Angela Merkel". Das Buch ist eine Hommage an die Politikerin und an die 16 Jahre ihrer Kanzlerschaft. Renommierte Autorinnen und Autoren aus Politik, Kultur, Religion und Sport haben an dem Buch geschrieben. Herausgegeben haben Sie es, Frau Schavan. Wie ist es Ihnen denn gelungen, Papst Franziskus für ein Geleitwort in dem Buch zu gewinnen?

Annette Schavan (Autorin, frühere Bundesministerin für Bildung und Forschung sowie frühere Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl): Ich habe jemanden gebeten, ihn zu fragen, ob er sich das vorstellen könne. Er hat spontan zugesagt und wenig später ist dieser schöne kleine Text entstanden, in dem viel von dem steckt, was Angela Merkel und Papst Franziskus verbindet. Es ist ja in vielen Begegnungen zum Ausdruck gekommen, wie sehr sie sich über die zentralen globalen Themen ausgetauscht haben.

DOMRADIO.DE: Was verbindet die beiden?

Schavan: Zwischen den beiden stimmt die Chemie. Das hat, so glaube ich, damit zu tun, dass beide davon überzeugt sind, dass mehr Weltgemeinschaft nötig ist. Dieser grundlegende Gedanke steckt in der Enzyklika "fratelli tutti".

Die Bundeskanzlerin hat ja im Rahmen der Pandemie mehrfach gesagt: "Es reicht nicht, dass es uns gut geht. Wenn es unseren Nachbarn schlecht geht, kann es auch uns nicht gut gehen". Der Gedanke der Solidarität weckt einen Gedanken auf eine globalere Sicht auf die Dinge, den Gedanken des Multilateralismus. Das hat die beiden immer beschäftigt und darüber haben sie sich viel ausgetauscht.

DOMRADIO.DE: Sie haben in dem Buch auch einen Beitrag geschrieben. "Bundeskanzler werden abgewählt. So war das immer", heißt es in Ihrem Beitrag. Bei Angela Merkel ist das anders. In Ihrem Beitrag zum Buch schreiben Sie dann weiter, das sei ein Ausdruck der "inneren Unabhängigkeit" von Angela Merkel, dass sie jetzt freiwillig geht und nicht abgewählt werden muss. Wie ist das denn gemeint, diese "innere Unabhängigkeit"?

Schavan: Damit ist vor allen Dingen die "innere Unabhängigkeit" auch nach vielen Jahren an der Macht gemeint. Eigentlich wissen wir aus der Politik, dass, wer einmal viele Jahre in der Politik ist, doch die Neigung hat, es nochmal zu versuchen und nochmal zu schauen, ob man das Ergebnis der Vergangenheit erreicht.

Das hat Angela Merkel als erste Bundeskanzlerin anders für sich entschieden, weil sie sich nie von dieser Macht hat vereinnahmen lassen, sondern wusste, dass dies eine zeitlich begrenzte Aufgabe ist. Und es ist wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Nach dem Motto: Alles hat seine Zeit.

DOMRADIO.DE: Das ist ja auch eine ganz andere Performance als dieses patriarchale, machthungrige Auftreten von Gerhard Schröder oder Helmut Kohl. Ist das richtig?

Schavan: Es wird natürlich nach vielen Jahren auch eine Zeit der Umstellung sein. Ich stelle mir die nicht einfach vor. Aber dieses "am Amt hängen" und zu glauben, dass man nur selbst es so gut kann, ist Angela Merkel immer fremd gewesen.

DOMRADIO.DE: In Ihrem Beitrag in dem Buch werfen Sie auch einen Blick zurück. Da fließt einiges Biografisches mit ein. Die friedliche Revolution in der DDR hat das Leben der jungen Physikerin Angela Merkel verändert und auch geprägt, schreiben Sie. Inwiefern?

Schavan: Sie lebte 35 Jahre mit der Mauer und damit ganz klar mit all den Beschränkungen, die damit verbunden waren. Es gibt Erzählungen von ihr, in denen sie zum Beispiel davon berichtet, dass sie und ihr Mann sich vorgestellt haben, nach der Pensionierung, im Rentenalter vielleicht einmal nach New York fliegen zu können.

In der ersten Regierungserklärung hat sie dann ja selbst den Satz formuliert: "Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit". Das hat dann auch ihre Politik geprägt. Der hohe Stellenwert, den Freiheit hat und damit verbunden auch selbst entscheiden zu können, wohin ich gehe, wohin ich reise, welche Ausbildung ich mache und wo ich beschäftigt bin, hat sie geprägt.

Dafür hat sie sich ganz stark gemacht, die Freiheit als Priorität zu setzen.

DOMRADIO.DE: Angela Merkel ist aber auch überzeugte Christin. Sie war die älteste Tochter des evangelischen Pfarrers Horst Kasner und seiner Frau Herlind, einer Pädagogin. Welchen Stellenwert spielt denn die Religion im Leben von Angela Merkel und auch in ihrer Politik?

Schavan: Einen ganz selbstverständlichen. Sie hat ihren Glauben nie als Legitimation für politisches Entscheiden genommen. Sie hat das nie wie eine Monstranz vor sich hergetragen. Aber sie ist zutiefst davon geprägt.

Sie ist auf dem Waldhof in Templin großgeworden. Der Vater hat junge Pfarrer ausgebildet. Er hat Menschen mit und ohne Behinderungen, die dort gemeinsam gelebt haben, betreut. Das sind natürlich bleibende, tiefe Erfahrungen.

Es gab dann auch in ihrer Amtszeit immer mal Situationen, in denen man das deutlich gespürt hat. Denken Sie nur an den September 2015 und die Frage der Geflüchteten.

Ihr Vater war ein renommierter evangelischer Pfarrer in der DDR. In dem Buch wird auch beschrieben, wie er mir vor vielen, vielen Jahren sein Konzept von Seelsorge erklärt hat. Wenn ich mich daran erinnere, was er mir damals gesagt hat, dann wirkt das nahezu prophetisch, was die Zukunft des Christentums in Europa angeht.

DOMRADIO.DE: Sie schreiben auch, dass Angela Merkel von dem besonderen Verständnis von Seelsorge, das ihr Vater hatte, geprägt worden sei. Inwiefern?

Schavan: Das ist sein Verständnis von Seelsorge in einer Welt, in der das Christentum nicht selbstverständlich ist und man nicht überall auf evangelische und katholische Christen stößt, die selbstverständlich in ihren Gemeinden leben, sondern es kleine Gruppen sind, wenige Menschen sind, die den Weg in eine Gemeinde suchen.

Horst Kasner war ein Mann, der viele, viele Brücken in Milieus hinein gebaut hat, denen das Christentum fremd war und der gleichzeitig den Menschen deutlich gemacht hat, dass sie realisieren müssen, dass das kein selbstverständlicher Prozess ist. Er hat ihnen Bibelworte an die Hand gegeben, an denen sie sich orientieren können, über die er mit ihnen im Gespräch gewesen ist.

Er war ein sehr konsequenter Mann und ein Mann mit viel Verständnis für diejenigen, denen das alles fremd ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben es bereits angedeutet. Es gibt eine Beziehung dieser besonderen christlichen Prägung, auch zu dem Satz, den Angela Merkel im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise 2015 gesagt hat. Dieser berühmte Satz: "Wir schaffen das".

Schavan: Das eine ist die Entscheidung selbst gewesen, die Grenzen nicht zu schließen, sie offen zu halten und den Menschen eine Möglichkeit zu geben, in Sicherheit zu kommen, aufgenommen zu werden. Das, was wir damals Willkommenskultur genannt haben.

Nun wissen wir alle, dass daraus heftige Diskussionen entstanden sind. Angela Merkel war zutiefst davon überzeugt, dass es ein ganz wichtiger Schritt einer christlichen Grundeinstellung gewesen ist. Wer in Not gerät, dem muss geholfen werden. Das Beispiel vom barmherzigen Samariter ist ein ganz klassisches Beispiel, das eben auch in der Politik relevant ist.

Und der andere Satz "Wir schaffen das" hat vielleicht mit der Zuversicht zu tun, die auch zu Angela Merkel gehört und mit ihrem Glauben zu tun hat. Diese Zuversicht kam ja auch immer zum Ausdruck, wenn sie bei einer Krise gesagt hat: "Wir wollen so entscheiden und handeln, dass wir nach der Krise stärker sind als vorher". Das ist die gleiche Zuversicht. Also nicht einknicken, sich nicht klein machen vor der Krise, sondern mit der Zuversicht ans Arbeiten gehen, sodass wir das schaffen können.

DOMRADIO.DE: Sie sind persönlich auch mit Angela Merkel befreundet. Was ist sie denn sonst für ein Mensch? Man pflegt hier im Rheinland seine Vorurteile von den drögen protestantischen Preußen und den lustigen Rheinländern. Entspricht sie dem Klischee, das wir Rheinländer von den Preußen haben?

Schavan: Ich finde nicht. Sie hat im politischen Alltag eine sehr disziplinierte Art. Das wirkt dann manchmal sehr ernst, manche sagen auch dröge. Der Mensch Angela Merkel ist zuversichtlich, humorvoll. Es ist oft davon gesprochen worden, wie witzig sie im kleinen Kreis ist.

Aber sie hat ein gutes Gespür dafür, was wann geht. Man will ja nicht unbedingt in ernsten Zeiten witzige Politiker, sondern man will dann Politiker und Politikerinnen, die den Ernst verkörpern. Und das hat sie in den 16 Jahren immer wieder getan.

DOMRADIO.DE: Das von Ihnen herausgegebene Buch "Die hohe Kunst der Politik" ist eine Sammlung von persönlichen Rückblicken auf die Kanzlerschaft von Angela Merkel. Unter anderem schreiben da der französische Präsident Macron, aber auch politische Gegner wie Sigmar Gabriel oder auch Sportler wie der Fußballer Philipp Lahm. Mit welcher Intension haben Sie die Auswahl der Autorinnen und Autoren getroffen?

Schavan: Die Idee des Buches stammt vom Verlag. Dann habe ich aber gesagt, dass wir einen internationalen Blick brauchen. Wir brauchen Blicke aus der Zivilgesellschaft heraus, ganz unterschiedliche Milieus. Es soll keine Festschrift sein, sondern es sollen ganz verschiedene Blicke, vor allem auch internationale Blicke auf diese 16 Jahre sein. Erste Blicke. Erste Erfahrungen, mit denen auch die großen Themen dieser Kanzlerinnenschaft aufgerufen werden.

Was war eigentlich dominant in all den Jahren? 29 Autorinnen und Autoren aus allen möglichen Lebensbereichen, aus Frankreich, aus Polen, aus Liberia haben sich eingebracht. Die frühere liberianische Staatspräsidentin hat zum Beispiel von ihren Begegnungen mit Angela Merkel geschrieben.

DOMRADIO.DE: Wenn Angela Merkel jetzt tatsächlich aus der Politik ausscheidet, dann werden Sie sie vielleicht auch häufiger zum Kaffeetrinken oder zum Wandern treffen können, oder?

Schavan: (lacht) Naja. Jedenfalls wird das eine Lebensphase sein, in der sie sowohl für ihre Familie als auch für Freundinnen und Freunde mehr Zeit hat. Da mag auch Wandern zu gehören. Vor allen Dingen denke ich, dass wir irgendwann im Kreis von Freunden und Freundinnen mit ihr auch mal wieder nach Rom fahren werden. Das ist eine Stadt, die sie sehr mag, so wie sie Italien sehr mag.

Das Interview führte Johannes Schröer.


Annette Schavan / © Julia Steinbrecht (KNA)
Annette Schavan / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Merkel und Schavan bei Papst Franziskus / © Cristian Gennari (KNA)
Merkel und Schavan bei Papst Franziskus / © Cristian Gennari ( KNA )
Quelle:
DR
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