Benny lebt seit 18 Jahren auf der Straße. Seinen Adoptiveltern, die ihn im Alter von zwei Jahren aufnehmen, bescheinigt er rückblickend, zu viele Erziehungsratgeber gelesen zu haben, aber nicht wirklich gut mit ihm umgegangen zu sein. Dabei hatte er zunächst alles, was sich ein Kind, um das sich die leibliche Mutter wegen ihrer Drogensucht nicht kümmern kann, nur wünschen könnte. Er geht auf eine Privatschule, und auch sonst fehlt es ihm materiell an nichts. Doch was er erlebt, verbucht er als "schlechte Erfahrung". Früh beginnt er, sich zu wehren – auch körperlich. In der 6. Klasse bricht er die Schule ab. Mit 13 läuft er von zuhause weg, mit 14 nimmt er Amphetamine – gegen seine ADHS-Störung, wie er sagt. 2006 verunglückt sein Zwillingsbruder tödlich beim "Trainsurfing". Als "Adrenalinkick" bezeichnet Benny dieses Hobby auf Leben und Tod, wenn sie zusammen auf fahrende Züge aufgesprungen sind. "Nach dem Unfall hatte ich dann oft Gedanken, mich selber auch wegzumachen, aber dann entschieden, für meinen Bruder weiterzuleben", erklärt er und verweist auf die auffälligen Tattoos in seinem Gesicht, die er sich zur Erinnerung an diesen schmerzlichen Verlust damals stechen ließ.
Heute hat er für sich klar: "Ich schwimme immer gegen den Strom, bin auf der Provokationsschiene." Und: "Geld macht nicht glücklich, davon gab es genug. Freundschaft ist das, was zählt." Mit 31 wolle er allen beweisen, dass er sein Leben nun selbst in die Hand nehmen könne. Nachts produziert er in Clubs Technomusik, schlägt sich als DJ durch. Langfristig will er auch von der Straße runter, "sich aus eigener Kraft etwas aufbauen", den Staplerführerschein machen. Religiös sei er nicht, aber das Angebot dieser Sternwallfahrt tue ihm dennoch gut. Außerdem sei er hier mit einer Gruppe aus dem "Gast-Haus" und freue sich über diesen Ausflug nach Köln, inklusive Domführung. "Ich komme mal raus, erlebe etwas anderes und treffe viele Leute, denen es so geht wie mir."
Begegnung in Würde
Das "Gast-Haus" in Dortmund ist eine Begegnungsstätte, wo Menschen, die oft unter schwierigen Bedingungen leben, Gastfreundschaft mit Hilfs- und Beratungsangeboten erfahren, aber auch mit Mahlzeiten versorgt werden und seelsorgliche wie medizinische oder juristische Betreuung in Anspruch nehmen können. Zum Selbstverständnis dieser Einrichtung der ökumenischen Wohnungslosen-Initiative gehört, den täglich bis zu 300 Gästen in einer Weise zu begegnen, die ihrer Würde entspricht und sie achtet.

Diesen Ansatz teilen im Übrigen alle Helferinnen und Helfer, die sich – großteils ehrenamtlich – in der Wohnungslosenseelsorge engagieren und an diesem Tag aus unterschiedlichen Städten ganz Nordrhein-Westfalens der Einladung des "Gubbio" zur Teilnahme an einer Sternwallfahrt gefolgt sind. Knapp 200 sind es insgesamt, die um 11 Uhr im Kölner Priesterseminar zusammenkommen und zu Beginn eines Wortgottesdienstes von Hausherr Regens Régamy Thillainathan begrüßt werden, der daran erinnert, dass hier zu Beginn der Coronazeit für Kölns Obdachlose regelmäßig eine Essensausgabe stattgefunden hat. "Schön, dass Sie da sind. Fühlen Sie sich hier zuhause!", formuliert er herzlich.
Wallfahrtsmotto lautet "Würde unantastbar"
Das Team der Kölner Wohnungslosenseelsorge – Schwester Christina Klein, Weihbischof Ansgar Puff und Stefan Burtscher – hat in diesem Jahr das Programm konzipiert, bei dem neben der Feier in der Kapelle des Seminars und einer Einzelsegnung zum Abschluss des Tages auch ein Mittagsessen im Speisesaal vorgesehen ist. Außerdem finden am Nachmittag fakultativ eine Stadtrundfahrt mit der Bimmelbahn, eine Führung durch den Dom mit dem Weihbischof, ein Orgelkonzert mit Heribert Kampelmann, der im Gubbio für alles Musikalische zuständig ist, und das Bemalen von kleinen Holztafeln des Theologen und Künstlers Ralf Knoblauch statt. Jedenfalls wird mit diesen Täfelchen das Thema des Tages am augenscheinlichsten: "Die Würde ist unantastbar" ist als Schriftzug in die Mini-Kunstwerke eingraviert wie auch die für Knoblauch typische Krone, die die königliche Würde eines jeden Menschen symbolisieren soll.

Einmal im Jahr verständigen sich die Obdachlosenseelsorger in den Bistümern Paderborn, Münster, Essen und Köln auf eine solche Sternwallfahrt, die stets auf große Resonanz stößt. "Obdachlose müssen oft erleben, dass ihnen ihre Würde abgesprochen wird, sie angetastet wird und eben nicht unantastbar ist", stellt Pastoralreferent Stefan Burtscher fest. "Wir schaffen mit dieser Wallfahrt ein Angebot, bei dem sich diese Menschen im Herzen der Stadt, mitten im Zentrum und nicht irgendwo am Rand, begegnen und austauschen können, sie sichtbar sind und wie ganz normale Gäste behandelt werden."
Die Wahl des Ortes, aber auch die Ankunft in Bus oder Bahn seien auch deshalb so wichtig, ergänzt Schwester Christina, weil das ein Zeichen dafür sei, dass auch wohnungslose Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben würden und so einmal aus ihrem oft belasteten Alltag herauskämen. "Da löst sich mit einem Mal etwas, man ist abgelenkt von den üblichen Problemen, einen Schlafplatz oder eine Gelegenheit zum Essen finden zu müssen." Die Ordensschwester betont: "Obdachlose leben oft am Rande der Gesellschaft, aber im Herzen Gottes haben sie einen besonderen Platz."
In ihrer Begrüßung unterstreicht sie daher auch: "Wir sind hier, um gemeinsam zu feiern, zu teilen, uns gegenseitig zu unterstützen und Gottesdienst zu feiern." Diese Wallfahrt stehe für Solidarität, Mitgefühl und Nächstenliebe, die zeige, dass die Kirche mehr als nur ein Gebäude sei, nämlich Gemeinschaft, Zuhören, Teilen und Begleiten. "Hier findet ihr einen Ort, an dem ihr euch wohlfühlen dürft und gemeinsam Hoffnung und Freude teilen könnt", wendet sie sich den vielen Frauen und Männer in den bis auf den letzten Platz gefüllten Kirchenbänken zu. "Ihr seid ein wichtiger Teil dieser Gesellschaft und wir heißen euch von Herzen willkommen." Dieser Tag diene der Stärkung, er möge Trost und neue Hoffnung schenken.
Dass jeder seine Geschichte in diese Seminarkirche mitgebracht hat, steht dem Einzelnen im Gesicht geschrieben. Und dass es Geschichten sind, in denen an manchen Stationen die Herausforderung besonders groß war, das Leben einen Umweg gemacht hat und letztlich aus dem Gleichgewicht geraten ist, auch. "Die Wallfahrt will daran erinnern, dass Gott alle diese Wege mitgeht und dass Jesus denen, die auf der Straße sind, eng verbunden ist", hatte Weihbischof Puff bereits im Vorfeld dazu versichert. Er ist es denn auch, der beim Gottesdienst und den gemeinsam gesungenen Liedern darauf verweist, dass ein Teil der gegenseitigen Unterstützung auch aus Beten bestehen könne – für die, die akut Hilfe benötigten, aber auch für diejenigen, die anderen Mut zusprechen und sie ein Stück weit tragen würden.

Stefan Burtscher übernimmt indes den Part, die Kernaussagen des Evangeliums, das von der Heilung eines Gelähmten handelt, zu erläutern. "Wir erfahren, dass es nicht immer einfach ist, aufgenommen zu sein. In diesem Fall sind es vier Freunde, die den Kranken tragen, ihn aushalten und schließlich einen Weg finden, ihn zu Jesus zu bringen", interpretiert er die vorgetragene Bibelstelle. Schließlich werde er, der Ausgeschlossene, aber gesehen, sogar berührt und sei wieder Teil der Gesellschaft. Dann lädt Burtscher dazu ein zu überlegen, wo jeder selbst schon mal die Erfahrung gemacht habe, gelähmt gewesen oder aber auch gestärkt worden zu sein. "Wo konnte ich schon mal jemandem helfen, der nicht mehr weiter wusste? Wo habe ich die Erfahrung von Lähmung gemacht, dann aber erlebt, dass mir Menschen den Weg zu Jesus, der den ganzen Menschen sieht, frei gemacht haben?“, formuliert er seinen Impuls.
Vielen fällt dazu etwas ein. Auch Bruder Christoph Gerenkamp aus Münster, der dort der Brüdergemeinschaft der Canisianer angehört, mit einer Gruppe von 30 Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, nach Köln gekommen ist und sonst schwerpunktmäßig in der Bahnhofsmission arbeitet. Er teilt mit der versammelten Gemeinde eine eigene schwere Situation, in der er erst wieder lernen musste, im wahrsten Sinne des Wortes auf die Beine zu kommen. „Ich bin hart auf die Erde geknallt, heute aber wieder im Leben. „Es geht weiter“, macht er seinen Zuhörern Mut und unterstreicht diesen Zuspruch mit dem Liedtitel „Steh auf, bewege dich…“, in den die Gemeinde fröhlich und mit rhythmischem Fingerschnippen einstimmt.
Bruder Christoph weiß, dass mancher Weg steinig, hart und lang ist. Das bekommt er seit fast 20 Jahren bei seiner Arbeit mit Menschen, die, wie er sagt, vom Schicksal oft gebeutelt sind, hautnah mit. Aber er erlebt auch, dass sich jeder von ihnen nach Geborgenheit sehnt und nach einer Atmosphäre, in der er sich ernst genommen und menschenwürdig behandelt fühlt. „Bei allen Enttäuschungen – selbst von der Institution Kirche – gibt es eine große Sehnsucht, sich festmachen zu können, auch im Glauben.“ Und dafür sei eine Erfahrung wie eine solche Wallfahrt unverzichtbar.