Politikwissenschaftler kritisiert Sozialpolitik der Bundesregierung

"Langzeitskandal zu einem Ende bringen"

Kinder, die Millionenvermögen geschenkt bekommen - und Kinder, deren Eltern fast nichts besitzen: Diese Spaltung will eine künftige Ampel-Regierung in den Blick nehmen. Im Detail sind sich die Parteien aber uneins, meint Christoph Butterwegge.

Symbolbild: Verzweifelte Eltern / © fizkes (shutterstock)
Symbolbild: Verzweifelte Eltern / © fizkes ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Was bedeutet denn eigentlich Armut?

Prof. Dr. Christoph Butterwegge (Politikwissenschaftler): Man unterteilt die Armut in absolute und relative. Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, nicht genug zu essen hat, kein sicheres Trinkwasser, keine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, kein Obdach, keine medizinische Grundversorgung.

Das ist diese Armut, die man als Not und Elend bezeichnen kann und die von uns eher im globalen Süden in den Entwicklungsländern vermutet wird, die es aber auch in Deutschland gibt, wenn wir an Wohnungs- und besonders an Obdachlose denken, die auf der Straße leben.

Nach dem sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung gibt es 678.000 Wohnungslose und 41.000 Menschen, die obdachlos sind. Wahrscheinlich hat sich diese Zahl durch die Covid-19-Pandemie noch deutlich erhöht.

Dann gibt es die relative Armut. Relativ arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse befriedigen kann, also höchstwahrscheinlich in einem eher wohlhabenden - wenn nicht reichen - Land wie Deutschland lebt. Er kann sich aber aufgrund von Geldmangel vieles von dem nicht leisten, was für die allermeisten Mitglieder der Gesellschaft als normal gilt: mal ins Kino zu gehen oder ins Theater, Freunde einzuladen und mit denen im Restaurant zu essen. Das ist selten oder nie möglich.

Für ein Kind bedeutet das, nicht in den Zoo, nicht im Zirkus, nicht mal auf eine Kirmes gehen zu können, weil den Eltern das Geld fehlt. Man spricht da dann häufig davon, dass die Teilhabe fehlt: die Teilhabe am sozialen, am kulturellen, auch am politischen Leben. Ein Hartz IV-Bezieher oder eine Hartz IV-Bezieherin kann nicht eben mal nach Berlin zu einer Demonstration fahren, weil im Regelbedarf bei Hartz IV 25 Euro im Monat vorgesehen sind für Mobilität.

In Köln kann man sich davon noch nicht mal ein Monatsticket leisten, viel weniger noch weite Fahrten, auch nicht zu Freunden oder Bekannten nach Süddeutschland. Das ist alles nicht möglich für die Menschen, die in relativer Einkommensarmut leben.

DOMRADIO.DE: Von den 13,5 Millionen Menschen unter 18 Jahren in Deutschland wachsen 2,8 Millionen in Armut auf. 2,4 Millionen sind jünger als 15 Jahre alt. Steckt das, was Sie gerade erklärt haben, hinter diesen Zahlen?

Butterwegge: Die Europäische Union - nach deren Kriterien wird das berechnet - sagt: Jemand ist armutsgefährdet, wenn er weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das halte ich schon wieder für ein bisschen verharmlosend.

Jemand, der als Alleinstehender weniger als 1.074 Euro im Monat zur Verfügung hat, der ist in aller Regel nicht nur von Armut bedroht, sondern der ist einkommensarm. Er muss davon in einer Groß- oder Universitätsstadt der Bundesrepublik ja auch noch die Miete bezahlen. Wenn er das getan hat, dann bleibt zum Leben wenig übrig. Aber das sind die Kriterien, nach denen die Armutsgefährdung in Deutschland statistisch erfasst wird.

Das bedeutet, um es jetzt auch noch auf Familien herunterzubrechen: Eine Alleinerziehende - meistens sind es ja Mütter - mit einem Kind unter 14 Jahren, verfügt im Monat über weniger als 1.396 Euro und ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren über weniger als 2.255 Euro, von denen dann noch die Wohnung bezahlt werden muss.

Da kaum Menschen, die ein so geringes Einkommen haben, über Wohneigentum verfügen, bleibt dann am Ende sehr wenig übrig. Das bezeichnet man dann in der Forschung als relative Einkommensarmut.

DOMRADIO.DE: In Ihrem Buch schreiben Sie: "Kinderarmut ist nicht vom Himmel gefallen." Wo kommt sie dann her?

Butterwegge: Kinder sind arm, weil Eltern und vor allen Dingen Mütter arm sind. Dann muss man eben gucken: Wo sind da die Einflussfaktoren, die es Familien nicht ermöglichen, Kindern ein wirklich gutes Aufwachsen zu ermöglichen? Unsere Gesellschaft ist als eine marktwirtschaftlich oder kapitalistisch organisierte Gesellschaft natürlich zweigeteilt.

Die einen besitzen die Unternehmen, die Banken, die Versicherungen. Die anderen besitzen hauptsächlich ihre Arbeitskraft. Wenn sie die auf dem Arbeitsmarkt nicht verkaufen können, weil zum Beispiel Qualifikationsdefizite da sind, psychische oder gesundheitliche Beeinträchtigungen, dann fällt das den Menschen schwer und sie landen im Niedriglohnsektor.

Dieser Niedriglohnsektor ist natürlich auch nicht vom Himmel gefallen, sondern hat sehr viel zu tun mit den Hartz IV-Reformen und der "Agenda 2010" unter der rot-grünen Koalition von Gerhard Schröder. Da ist der Niedriglohnsektor ausgebaut worden.

Wenn die Fahrradkuriere, die Paketboten, die Getränkelieferanten, wenn die Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten und als Prekariat bezeichnet werden, dann Kinder haben, sind auch die Kinder arm. Das halte ich für einen ganz, ganz wichtigen Faktor.

Wenn man fragt, wo die Armut von Kindern herkommt, gibt es natürlich auch andere Gründe. Der Sozialstaat ist um- und ausgebaut worden. An verschiedenen Stellen sind die Sicherungselemente gekappt worden. Das bedeutet dann für Familien, dass sie ein höheres Armutsrisiko haben, als das vielleicht zu einer Zeit der Fall war, als die Bundesrepublik eher den Sozialstaat ausgebaut hat.

Ich will mal eine Zahl nennen, die ganz gut verdeutlicht, wie stark sich unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht verändert hat: Auf dem Höhepunkt des sogenannten Wirtschaftswunders Mitte der 60er-Jahre, also 1965, befand sich jedes 75. Kind in der Sozialhilfe. Heute befindet sich jedes siebte Kind in Hartz IV.

Das muss die politisch Verantwortlichen alarmieren und den Langzeitskandal wie den der Kinderarmut zu einem Ende bringen. Aber die Regierungen unterschiedlicher Zusammensetzung haben in der Vergangenheit zu wenig gegen die Kinderarmut getan.

DOMRADIO.DE: Wie sehen Sie denn die Chancen, dass sich mit einer neuen Regierung etwas ändern kann in Bezug auf Kinderarmut in Deutschland?

Butterwegge: Ich würde diese Antwort gerne zweiteilen. Unser Buch behandelt ja nicht nur die Kinderarmut, sondern auch den Kinderreichtum. Es gibt auch Kinder, von denen die Öffentlichkeit nicht spricht, die schon kurz nach ihrer Geburt aus steuerrechtlichen Gründen zum Teil riesige Vermögen geschenkt bekommen. Die bekommen sie nicht vererbt, weil die Eltern durchaus noch leben. Da handelt es sich dann häufig um dreistellige Millionenbeträge, die den Kindern überschrieben werden.

Diese Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich führt bei den Kindern wie auch in der Gesellschaft insgesamt zu sozialen Zerreißproben. Diese Spaltung wird von der neuen Regierung zu wenig in den Blick genommen. Man wird die Steuern für wohlhabende Reiche und Hyper-Reiche, wie ich sie nenne, nicht erhöhen - aufgrund der Probleme, die die FDP damit hat.

Man wird die Vermögenssteuer nicht wieder erheben, den Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer nicht erhöhen und andere steuerliche Maßnahmen auch nicht einführen, die dafür sorgen würden, dass es mehr sozialen Ausgleich gibt.

Was die Kinderarmut angeht, und das ist jetzt der zweite Teil der Antwort, da gibt es natürlich bei den drei beteiligten Parteien, bei der SPD, den Bündnisgrünen und der FDP durchaus eine größere Sensibilität als gegenüber der sozioökonomischen Ungleichheit.

Die Kinderarmut wollen SPD und Bündnisgrüne mit einer Kindergrundsicherung bekämpfen. Das ist eine Zusammenfassung der kindbezogenen Leistungen: Sie wollen das Kindergeld, den Kinderzuschlag, das Sozialgeld für die Kinder bei Hartz IV, das Bildungs- und Teilhabepaket zu einer Leistung zusammenfassen, die höher ist als bisher.

So würden Kinder, die bisher von Hartz IV lebten, bessergestellt werden, aber auch alle anderen Kinder. Bis auf die ganz Reichen, die würden, wenn man den steuerlichen Kinderfreibetrag auch mit einbezieht, nicht bessergestellt werden.

Das, denke ich, wird aber die FDP nicht mitmachen. Sie will den steuerlichen Kinderfreibetrag erhöhen. Der sorgt dafür, dass Kinder von Besserverdienenden, insbesondere von Spitzenverdienern, sehr viel mehr Geld bekommen, als dass die Kinder von Normalverdienern. Die FDP will diesen steuerlichen Kinderfreibetrag, der Ungleichheit schafft, sogar noch erhöhen.

Deshalb wird man abwarten müssen, was die Koalitionsverhandlungen ergeben.

Das Interview führte Moritz Dege.


Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler und Armutsforscher / © Elisabeth Schomaker ( KNA )
Quelle:
DR
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