Welche Rolle Großeltern in afrikanischen Ländern spielen

„Wenn ein Ältester stirbt, ist eine ganze Bibliothek verloren“

Sie bereisen die Welt, engagieren sich ehrenamtlich und sind in die Kinderbetreuung eingebunden. Die Rolle von Großeltern in westeuropäischen Ländern ist vielseitig. In Afrika ist sie anders, erklärt Raoul Bagopha von Misereor.

Eine Großmutter erklärt ihrer Enkelin etwas. / © Lucian Coman (shutterstock)
Eine Großmutter erklärt ihrer Enkelin etwas. / © Lucian Coman ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Welche traditionelle Rolle haben Großeltern in der afrikanischen Gesellschaft?

Raoul Bagopha (Referent für Westafrika bei Misereor): Eine vielfältige. Sie haben traditionell die Rolle derjenigen, die die Traditionen der Familie weitergeben, die mit den Enkelkindern darüber reden, wo sie herkommen oder was sie eigentlich so wissen sollten.

Sie gelten auch traditionell deswegen als menschliche Bibliotheken. In der afrikanischen Tradition werden sie in einem Sprichwort als Bibliothek bezeichnet, weil sie die mündlich überlieferte Kultur, die weit verbreitet ist, immer noch verkörpern, trotz des Wandels, den Afrika durchläuft. Es gibt ein Sprichwort, das mittlerweile deutlich macht, was für eine Rolle die Großeltern haben. Es besagt: Wenn ein Ältester stirbt, ist eine ganze Bibliothek verloren.

DOMRADIO.DE: Spielen sie auch eine Rolle für die Glaubensvermittlung?

Raoul Bagopha: Sie spielen eine sehr, sehr wichtige Rolle für die Glaubensvermittlung. Sie kennen die Vorfahren aus nächster Nähe, und deshalb sind sie auch diejenigen, die anerkanntermaßen über das Geschick und die Mittel verfügen, Genealogie und Familiengrenzen zu lehren. Und auch deutlich zu machen, dass man hier eine Vermittlung haben kann zwischen Vorfahren, die nicht mehr leben, und Großeltern, die irgendwann vor den Enkelkindern sterben werden.

Sie sind ein bisschen näher dran. Also bauen sie eine Brücke zwischen den Vorfahren, die jetzt vielleicht schon bei Gott sind oder zwischen Gott und den Enkelkindern.

DOMRADIO.DE: In Westeuropa nutzen Großeltern ihre freie Zeit auch gerne für eigene Hobbys, für Reisen, sie haben einen prallen Terminkalender. Es geht auch um ihre Selbstverwirklichung. Was ist für Großeltern in afrikanischen Ländern wichtig?

Raoul Bagopha: Heutzutage ist für sie wichtig, dass sie die Erfahrungen und das Wissen, das sie durch diese Erfahrungen gesammelt haben, weitergeben können. Das ist für sie das Entscheidende. Sie wollen weitergeben, was sie erfahren haben, und sie sind auch bereit, sich für diese Aufgabe die Zeit zu nehmen.

Es ist wichtig zu wissen, in traditionellen afrikanischen Gesellschaften haben Großeltern einen Anspruch darauf zu sagen: Von uns hat keiner mehr was zu fordern. Das heißt, sie haben die Möglichkeit zu sagen, wir wollen weitergeben, wir müssen aber nicht weitergeben. Und sie wollen in der Regel weitergeben und sagen auch, wir werden glücklich, wenn die Leute, die sie unterstützen wollen, auch bereit wären, das mitzunehmen, was sie ihnen mit auf den Weg geben wollen.

DOMRADIO.DE: Papst Franziskus hat dieses Jahr zum ersten Mal für den 25. Juli einen Welttag der Senioren und Großeltern in den katholischen Kalender aufgenommen. Ist dies für Sie eine wichtige Initiative?

Raoul Bagopha: Das ist absolut wichtig. Es ist deswegen wichtig, weil wir hier mit diesem Welttag auch deutlich sehen, dass die Gesellschaft – ob jetzt in Europa oder in Amerika, in Asien oder in Afrika – auch versteht, es gibt so etwas wie Altern. Und wenn man Glück hat, wird man altern. Und das ist auch etwas, was man wieder ins Bewusstsein rufen sollte.

Wenn man alt ist, ist man aber noch nicht verloren. Man hat immer noch einen Beitrag, den man leisten kann. Und es ist wichtig, dass die Gesellschaft sich fragt, wie nutzen wir diesen Beitrag und wie können wir das würdigen, was die Älteren, die Senioren und Seniorinnen und die Großeltern leisten können.

Und ich glaube, so ein Tag hilft dabei, darüber nachzudenken, auch demütig mit diesem Angebot umzugehen, indem man sagt, man hat noch von ihnen viel zu lernen, auch wenn sie vielleicht nicht mehr so jung und dynamisch sind wie früher.

Das Interview führte Moritz Dege.


Quelle:
DR