NRW-Studie zu Gewalt in Kinderkurheimen nach 1945

Das Leid der Verschickungskinder

Von 1949 an sind bis 1990 über zwei Millionen Kinder in Erholungsheime an die Nord- und Ostsee verschickt worden. Bis heute leiden diese Menschen unter den Folgen von Gewalt, Misshandlungen und Demütigungen.

Privatfoto aus dem Jahr 1954 zeigt Christoph Sandig aus Leipzig, Jahrgang 1946, in einer Kinderheilstätte in Westdeutschland (dpa)
Privatfoto aus dem Jahr 1954 zeigt Christoph Sandig aus Leipzig, Jahrgang 1946, in einer Kinderheilstätte in Westdeutschland / ( dpa )

Mit einer Studie über die sogenannte Kinderverschickung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das NRW-Sozialministerium den Grundstein für eine wissenschaftliche Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Landesgeschichte von Nordrhein-Westfalen gelegt. Laut der Studie wurden von 1949 bis 1990 von staatlichen Stellen Fahrten für über 2,1 Millionen Kurkinder aus Nordrhein-Westfalen in Erholungsheime vor allem an Nord- und Ostsee organisiert, wie das Ministerium am Montag in Düsseldorf bei der Vorlage der Studie mitteilte. Viele dieser Kinder sind nach eigenen Berichten dort Gewalt, Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt gewesen und leiden zum Teil bis heute unter Depressionen und Angstzuständen.

NS-Ausrichtung bis in die Nachkriegszeit

Die Studie legt den Angaben zufolge offen, dass die Organisation der Erholungs- und Heilkuren für Kinder in der Weimarer Republik aufgebaut und in der NS-Zeit an die Ideologie des nationalsozialistischen Regimes angeglichen wurde. Diese Ausrichtung habe in den Folgejahren nachgewirkt, sodass "mentale und personelle Kontinuitäten" bestanden hätten, hieß es. Später habe das NRW-Sozialministerium Standards für die Erholungs- und Heilfürsorge etabliert.

Tausende Berichte über Einrichtungen

Die Anzahl der Verschickungskuren erreichte demnach in den 1960er- und 1970er-Jahren ihren Höhepunkt. Die meisten Berichte ehemaliger Verschickungskinder beziehen sich auf Erlebnisse in diesem Zeitraum. Einer "Initiative Verschickungskinder" liegen der Studie zufolge mittlerweile 5.000 Berichte von Zeitzeugen vor. Sie beträfen Einrichtungen sämtlicher Trägergruppen von den Kommunen über private Heimträger und Wohlfahrtsverbände bis zu Krankenkassen und betrieblichen Einrichtungen.

Beginn der Aufarbeitung

Nach vielen Jahrzehnten des Schweigens sei die jetzt vorgelegte Studie "ein wichtiger Schritt in Richtung Wahrheitsfindung", sagte Detlef Lichtrauter vom Verein "Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW". Das Land werde "in enger Abstimmung" mit dem Verein einen "Runden Tisch einrichten, um ein Stück weit Licht ins Dunkel zu bringen, kündigte NRW-Sozialminister Laumann an.

Die Untersuchung hat den Angaben zufolge der Leiter der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger, Marc von Miquel, erstellt. Sie bereite die Fakten auf und identifiziere weiteren Forschungsbedarf. Recherchen zu Misshandlungen und Gewaltakten in einzelnen Einrichtungen waren nicht Auftrag der Studie.


Quelle:
epd
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