30 Jahre nach dem Gladbecker Geiseldrama

"Mama, da ist etwas passiert"

​1988 muss Fabio De Giorgi im Fernsehen mit ansehen, wie seine Geschwister bedroht werden. Bruder Emanuele stirbt später mit einer Kugel im Kopf. 30 Jahre danach rügt der Presserat die Veröffentlichung eines Fotos des verblutenden Jungen.

Autor/in:
Ellen Nebel
Gladbeck: Schwarze Stunde auch für Journalismus (dpa)
Gladbeck: Schwarze Stunde auch für Journalismus / ( dpa )

Fabio De Giorgi ist noch ein kleiner Junge im August 1988. "Ich habe den Fernseher angemacht und sofort Tatiana gesehen mit diesem Verbrecher im Bus und wie er ihr die Pistole an den Kopf hielt. Dann habe ich meine Mutter gerufen und gesagt: Mama, da ist etwas passiert." So schildert De Giorgi es 30 Jahre später in einer Radio-Bremen-Dokumentation von Nadja Kölling über das Geiseldrama von Gladbeck. Am Ende des 54-stündigen Verbrechens, das die Medien zum Teil in beispielloser Weise als eine Art Live-Krimi inszenierten, sind drei Menschen tot, darunter Emanuele De Giorgi, Fabios Bruder.

Was damals passierte, gilt bis heute angesichts der Schonungslosigkeit, mit der Journalisten privater wie auch öffentlich-rechtlicher Medien um die Berichterstattung wetteiferten, während die Geiseln um ihr Leben bangten, als medienhistorisch bedeutende Ausnahmesituation. Zwei junge Männer Anfang 30 überfallen am 16. August 1988 eine Bank in Gladbeck. Hans-Jürgen Rösner und sein Komplize Dieter Degowski, beides ehemalige Sonderschüler, fliehen nach der Tat zwei Tage lang durch Deutschland und die Niederlande. Zwei ihrer Geiseln - neben dem Teenager Emanuele auch die 18-jährige Silke Bischoff - und ein Polizist kommen ums Leben.

"Können wir etwas für Sie tun?"

Bereits zu Beginn des Dramas führt der niedersächsische Privatsender FFN ein Telefongespräch mit den Bankräubern aus der Gladbecker Bank-Filiale und sendet es leicht gekürzt. Es ist der Auftakt zu einem absonderlichen Medienspektakel. Zwei Tage später stehen Rösner und Degowski in der Kölner Fußgängerzone, umlagert von Reportern, und geben Interviews. Gut 48 Stunden haben sie zu diesem Zeitpunkt nicht geschlafen, Stunden der Flucht, während der die Männer in Bremen einen Linienbus kapern. Es ist der Bus, in dem Fabio De Giorgis Geschwister Tatiana und Emanuele sitzen.

Als die Geiselnehmer in der Kölner Innenstadt mit der Presse sprechen, ist Emanuele bereits tot, erschossen von Degowski. In ihrer Gewalt sind nun zwei junge Frauen. Rösner sagt, wenn etwas schief laufe, "sind die Mädchen tot". Zum Schluss werde er sich dann selbst "das Dingen in den Mund" stecken - gemeint ist die Pistole, deren Lauf er sich zur Demonstration in den Mund hält. Ein Reporter fragt die Entführer: "Können wir etwas für Sie tun?" Auch die Geiseln werden befragt.

"Journalisten dürfen nicht in die Tat einschreiten"

 "Gladbeck war ein Glücksfall für die Journalisten, denn sie konnten live dabei sein", sagt Hans-Bernd Brosius, Medienwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Anders als beispielsweise ein Flugzeugabsturz sei das Geiseldrama kein abgeschlossenes Ereignis gewesen, als die Berichterstattung einsetzte. "So etwas ruft beim Publikum besonders heftige Reaktionen hervor, alle warten sekündlich auf Neuigkeiten, die Menschen können gar nicht weggucken", sagt Brosius.

Hartmut Wessler von der Universität Mannheim forscht zu verantwortlicher Berichterstattung über Terrorismus. Diese vermeide eine übermäßige Identifikation mit dem Täter, erläutert der Medienwissenschaftler. Beim Geiseldrama von Gladbeck sei aber genau das passiert: "An die Namen der Täter kann ich mich bis heute erinnern, bei den Opfern wird es schon schwieriger." Es sei menschlich, einen Täter verstehen zu wollen. "Allerdings dürfen Täter durch die Berichterstattung nicht zu Vorbildern werden", sagt Wessler. Für die heutige Berichterstattung, auch über Terrorismus, ergebe sich noch eine weitere Lehre aus Gladbeck: "Journalisten dürfen nicht in die Tat einschreiten."

Pressekodex ergänzt

So wie 1988 unter anderen der Kölner "Express"-Reporter Udo Röbel. Er steigt in der Kölner Innenstadt zu Rösner, Degowski und ihren beiden Geiseln ins Auto, um den Geiselnehmern den Weg zur Autobahn zu zeigen. Der Deutsche Presserat ergänzte nach Gladbeck seinen Pressekodex. Journalisten dürfen sich "nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen" heißt es seitdem. Live-Interviews mit Straftätern sind geächtet.

Medienwissenschaftler Brosius bleibt skeptisch: "Journalismus lernt nicht dazu, er kann sich dem Konkurrenzdruck nicht entziehen." Wer die Story zuerst hat, bekommt mehr Leser, mehr Zuschauer, mehr Klicks. Im Zeitalter sozialer Medien wächst der Druck zusätzlich: Nutzer laden auch bei Verbrechen in Echtzeit eine Vielzahl von Bildern und Videos hoch - was die Medien nicht zeigen und berichten, ist bei Facebook, Youtube und Twitter zu haben.

Tatsächlich beschäftigen die Folgen des Geiseldramas von Gladbeck den Presserat bis heute. Erst im vergangenen Juni rügte das Selbstkontrollorgan der deutschen Presse die Veröffentlichung aktueller Fotos der Geiselnehmer Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner durch die "Bild"-Zeitung. Auch der ermordete Emanuele de Giorgi wurde abgebildet, ebenfalls eine Verletzung des Pressekodex, befand der Presserat. Das Foto des verblutenden Jungen sei 30 Jahre später nicht vom öffentlichen Interesse gedeckt und verletze den Schutz des Opfers und der Angehörigen.


Quelle:
epd