RKI-Chef Wieler enttäuscht und frustriert

"Viele Menschen brauchen Vorbilder, die Vertrauen schaffen"

Das zweite Weihnachten mit dem Virus in Deutschland: Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, hält den weihnachtlichen Kirchgang für möglich, wenn sich Gemeinde und Gottesdienstbesucher verantwortlich verhielten.

Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) / © Bernd von Jutrczenka (dpa)
Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) / © Bernd von Jutrczenka ( dpa )

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herr Professor Wieler, trotz aller Maßnahmen geht die Zahl an Corona-Infizierten durch die Decke. Hat das RKI versagt?

Lothar Wieler (Präsident des Robert Koch-Instituts): Das RKI macht anhand wissenschaftlich fundierter Analysen Empfehlungen, gehandelt werden muss woanders. Wir haben diese vierte Welle ziemlich genau vorhergesagt. Auf die derzeitige Entwicklung haben wir bereits im Sommer hingewiesen und die Warnungen im Herbst verschärft. Wir sind aber durchaus enttäuscht und frustriert, dass die Empfehlungen nicht angemessen umgesetzt wurden.

KNA: Die Entwicklung war also vermeidbar?

Wieler: Wir sind sehenden Augen in die vierte Welle gegangen. Ich bin mir aber durchaus bewusst, dass Politiker in einem sehr schwierigen Abwägungsprozess stehen. Wir konzentrieren uns auf die Gesundheit, sie müssen vieles andere einbeziehen, wie etwa die Wirtschaft oder gesellschaftliche Akzeptanz. Ich beneide sie nicht um ihre Aufgabe.

KNA: Wie gehen Ihre Mitarbeiter mit der Enttäuschung um?

Wieler: Wir wissen, dass es in Deutschland eine Mehrheit von Menschen gibt, die klug und solidarisch mitwirken. Dass wir über unsere eigentlichen Adressaten - diejenigen, die in Gesundheitsberufen arbeiten - und Experten hinaus inzwischen sehr viele Menschen schützen können, ist für uns eine wichtige Motivation.

KNA: Ist das RKI hinreichend aufgestellt?

Wieler: Wir haben Experten zu sehr vielen verschiedenen Themen, also viel Fachkompetenz und Herzblut, und erstellen viele wissenschaftliche Bewertungen und Empfehlungen. Zudem steht das RKI seit 30 Jahren im Austausch mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst und hat enge Beziehungen zum Bundesgesundheitsministerium. Das alles gehört zum Krisenmanagement. Hinzu kommt der internationale Austausch. Wir unterstützen über 60 Länder in der Pandemie. Da bleibt es nicht aus, dass wir in vielen Bereichen maximal belastet sind und mehr Ressourcen benötigen würden. Ich würde auch gerne die Kommunikation erweitern, um besser informieren zu können.

KNA: Wie ist das Feedback?

Wieler: Wir haben sehr viele positive Rückmeldungen, am lautesten sind aber typischerweise die Unzufriedenen.

KNA: Wo stehen wir derzeit in der vierten Welle?

Wieler: Die Situation ist dramatisch. Die Infektionszahlen steigen nach wie vor rasant. Wenn wir die Kontakte nicht drastisch einschränken, wird die ärztliche Versorgung in vielen Krankenhäusern nicht mehr gewährleistet sein.

KNA: Sind jetzt weitere Teillockdowns in bestimmten Regionen zu erwarten?

Wiehler: Das sind politischen Entscheidungen. Ich sehe kaum eine Alternative.

KNA: Wie hoch ist der Impfschutz, wenn es zu so vielen Impfdurchbrüchen kommt?

Wieler: Einen hundertprozentigen Schutz wird es nie geben. Aber die zugelassenen Impfstoffe sind sehr effektiv: Sie reduzieren das Risiko für einen schweren Verlauf um rund 90 Prozent. Die Mehrzahl der Erkrankten und Patienten mit schwerem Verlauf sind derzeit eindeutig die Ungeimpften.

KNA: Allerdings lässt die Impfstoffwirkung nun auch nach ...

Wieler: Das war wie bei anderen Impfstoffen zu erwarten. Nur der Zeitraum von sechs Monaten war nicht ganz klar, weil die Erfahrung mit diesen neuen Impfstoffen fehlte. Umso wichtiger ist nun die Auffrischungsimpfung. Auch hier hatten wir schon im Juli darauf hingewiesen, diese Impfungen zu planen.

KNA: Welche Rolle spielt die Delta-Variante?

Wieler: Sie treibt das Infektionsgeschehen, weil sie wesentlich ansteckender ist und eine wesentlich stärkere Viruslast mit sich bringen kann als das ursprüngliche SARS-CoV-2. Gemeinsam mit der nachlassenden Impfwirkung steigt deshalb wieder die Gefahr der Infektion. Deshalb hat die Ständige Impfkommission die Empfehlungen angepasst und empfiehlt die dritte Impfung inzwischen allen Erwachsenen.

KNA: Für Genesene und Geimpfte ist also eine Rückkehr in die völlige Normalität noch nicht möglich?

Wieler: Nein, die völlige Normalität nicht. Sie sollten etwa zumindest bei größeren Veranstaltungen und in Innenräumen die Hygieneregeln einhalten, also Maske, Abstand und Händewaschen.

KNA: Was bringt die Auffrischungsimpfung?

Wieler: Einen qualitativen Sprung: Sie ist deutlich wirksamer, sowohl gegen Erkrankungen wie gegen Übertragungen.

KNA: Wenn die jüngsten Maßnahmen von Bund und Ländern eingehalten werden, entspannt sich dann die Situation bis Weihnachten?

Wieler: In den Regionen mit hohen Inzidenzen kann ich mir das kaum vorstellen, da ist die Bremse wohl zu schwach. Im Norden und Nordwesten könnten wir die Zahlen bei konsequenter Anwendung niedriger halten.

KNA: Was sollte man beim Weihnachtsbesuch von Eltern oder Großeltern beachten?

Wieler: Man sollte sich vorbereiten. Wer Risiken verringern will, sollte geimpft oder genesen sein, vorher seine Kontakte möglichst einschränken und in den Tagen vor dem Besuch einen Test machen und außerdem immer die AHA-plus-L-Regeln beachten. Auch die Eltern oder Großeltern sollten unbedingt geimpft sein.

KNA: Werden Sie zu Weihnachten mit der Familie einen Gottesdienst besuchen?

Wieler: Das hängt von der Inzidenz ab. Die Gotteshäuser sind zwar leider oft nur noch zu Weihnachten und Ostern voll. In diesem Jahr macht das die Situation allerdings nicht einfacher. Ich weiche vielleicht auf einen anderen Tag mit weniger Besuchern aus.

KNA: Wenn aber auf alle Vorschriften geachtet wird, ist ein Gottesdienstbesuch vertretbar?

Wieler: Grundsätzlich schon, wenn sich die Gemeinde und die Gottesdienstbesucher verantwortlich verhalten. Aber wie gesagt: Das hängt vom aktuellen Infektionsgeschehen ab, also von der Inzidenz. Entscheidend ist die Einhaltung und Kontrolle der Vorgaben. Wir haben ja die Empfehlungen der Control-Covid-Strategie vorgelegt: Sie reichen je nach Inzidenz von 3G mit Schutzkonzept, also Masken, Abstand, Einschränkung des Gemeindegesangs usw., über eine weitere Verringerung der Besucherzahlen bis zu 2G mit Schutzkonzept und bei hoher Inzidenz auch der Absage von Veranstaltungen.

KNA: Was gilt es beim gedrängten Weihnachtseinkauf zu beachten?

Wieler: Das hängt wiederum von der Inzidenz ab: von strengen Hygieneregeln bis zum Schließen bestimmter Orte. Entscheidend bleibt die Kontrolle. Wie Gemeinden reagieren, wird maßgeblich von der Belegung der Krankenhäuser und Intensivbetten abhängen.

KNA: Wie lange wird uns das Virus begleiten?

Wieler: Die Mehrheit der Wissenschaftler geht davon aus, dass es endemisch wird: Es bleibt, passt sich aber dem Menschen an, der eine Immunität aufbaut, und die Krankheitswellen schwächen sich ab. Irgendwann könnte auch Covid-19 wie andere Coronaviren nur noch Erkältungssymptome hervorrufen.

KNA: Wieso ist die vierte Welle dann in Deutschland bislang die höchste?

Wieler: Vor allem, weil es mit 15 Millionen Menschen noch viel zu viele Ungeimpfte gibt, aber trotz dieser hohen Zahl an Ungeimpften die Infektionsschutzmaßnahmen nicht mehr aufrecht gehalten wurden. Wenn es uns nicht gelingt, bis Neujahr mindestens die Hälfte zu Impfen, wird es in absehbarer Zeit ziemlich sicher die fünfte Welle geben.

KNA: Was wäre jetzt nötig?

Wieler: Kontaktbeschränkungen, um schnellstmöglich die Neuinfektionen zu senken. Und eine nationale Kraftanstrengung, um möglichst alle zu impfen. Wir haben genug Impfstoff. Allerdings scheitert das nicht zuletzt an der Vertretung der Ärzte und Ärztinnen. Sie will nicht, dass Apotheker oder beispielsweise Tierärzte oder Pensionäre impfen und beruft sich auf das Standes- und Haftungsrecht. Auch wenn es vermutlich rechtliche und organisatorische Hindernisse geben würde: In der derzeit herrschenden Notlage finde ich das schon bemerkenswert, dass bestimmte Interessengruppen das Eigeninteresse offenbar über das Gemeinwohl stellen.

KNA: Viele Eltern haben Vorbehalte, ihre Kinder impfen zu lassen, zumal sie offenbar zumeist einen sehr leichten Verlauf haben ...

Wieler: Ja, Gott sei Dank kommen die Kinder größtenteils gut über die Infektion hinweg. In seltenen Fällen gibt es aber auch bei ihnen schwere Entzündungen und äußerst vereinzelt Todesfälle. Außerdem gibt es Fälle von Long-Covid, auch mit kognitiven Einschränkungen. Wie häufig das vorkommt, ist noch unklar. Wesentlich ist allerdings auch, dass sie den Erreger übertragen. Daher empfiehlt die Ständige Impfkommission die Impfung für alle 12- bis 17-Jährigen. Ich halte das für eine richtige und wichtige Empfehlung.

KNA: Viele Impfskeptiker misstrauen dem neuartigen mRNA-Impfstoff und sorgen sich um "long-mRNA"-Folgen.

Wieler: Das Paul-Ehrlich-Institut überwacht die Entwicklung akribisch. Wenn Nebenwirkungen auftreten, dann innerhalb weniger Wochen. Langfristige Folgen sind biomedizinisch auszuschließen.

KNA: Dennoch gibt es schwerere Nebenwirkungen.

Wieler: Bei Astrazenca waren es in seltenen Fällen bestimmte Thrombosen in bestimmten Gruppen. Deshalb wird der Impfstoff hierzulande für bestimmte Gruppen von der Stiko nicht mehr empfohlen. Und bei den mRNA-Impfstoffen sind es sehr seltene Fälle von Herzmuskelentzündungen besonders bei jüngeren Männern. Sie verheilen aber nach aktuellem Kenntnisstand wieder. Im Falle einer Covid-19-Erkrankung tritt diese Entzündung allerdings deutlich häufiger auf als nach einer Impfung.

KNA: Viele sind besorgt, dass dem Menschen ein Genomstück injiziert wird. Sie haben Angst, dass es in unser Erbgut eindringen kann.

Wieler: Das ist eigentlich kein Genomstück, sondern eher Übersetzungsstück zwischen dem Genom und einem Eiweiß, dem Spike-Protein des Virus. Es ist nur eine Art Bauanleitung für ein bestimmtes schützendes Protein - im Gegensatz zum vermehrungsfähigen vollständigen Covid-19-Virus.

KNA: Nach der deutschen Hilfe für italienische Covid-Patienten wurden nun deutsche Intensivpatienten nach Italien gebracht. Was hat Italien besser gemacht?

Wiehler: Nach den traumatischen Erfahrungen von Bergamo werden dort die Konzepte genau kontrolliert und rigoros umgesetzt. Über die Umsetzung in Deutschland bin ich in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Es gibt zum Beispiel Restaurants, die offenbar überhaupt nicht kontrollieren.

KNA: Können wir in Deutschland sicher sein, so lange in anderen Ländern die Pandemie wütet?

Wieler: Was innerhalb von Deutschland gilt, gilt auch global: Erst wenn der allergrößte Teil der Menschheit immun ist, ist das Infektionsgeschehen wirklich unter Kontrolle.

KNA: Papst Franziskus und Nobelpreisträger haben gefordert, die Impfpatente für Entwicklungsländer freizugeben.

Wieler: Ich teile die Intention, denke aber nicht, dass es von den Patenten abhängt. Wir müssen die Herstellungskapazität in allen Erdteilen aufbauen. Was die Solidarität angeht, wird man aber schon nachdenklich, dass wir Impfstoff im Überfluss haben. Allerdings liefern wir auch viele Impfstoffe in die Low- und Middle-Income-Länder.

KNA: Was sagen Sie einem Impfskeptiker?

Wieler: Die Weltgesundheitsorganisation zählt die Impfskepsis zu den zehn größten globalen Gesundheitsgefahren. Es gibt viel Forschung dazu und verschiedenste Gründe, warum sich Menschen nicht impfen lassen. Darunter auch ideologische Impfgegner, aber auch jene, die eiskalt kalkulieren und die Restrisiken auf andere abschieben, was schlicht unsolidarisch ist.

KNA: Was sagen Sie dem, der wirklich Angst hat oder einfach verunsichert ist?

Wieler: Einen großen Teil kann man mit Fakten und Argumenten durchaus überzeugen, wie man sie bei verlässlichen Stellen wie zum Beispiel der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung oder auch bei uns findet. Andere sind durch teilweise gezielt gestreute Gerüchte verunsichert, etwa der Impfstoff würde unfruchtbar machen - was wissenschaftlich unhaltbar ist.

Viele Menschen brauchen Vorbilder, die Vertrauen schaffen. Schließlich gibt es auch Bequeme, die man durch niedrigschwellige Angebote erreichen kann. Ich bin sicher, wenn wir offen und frischen Mutes herangehen, können wir von allen, die noch nicht geimpft sind, mindestens die Hälfte zum Impfen bewegen.

Das Interview führte Christoph Scholz.


Quelle:
KNA