Heftiger denn je plagt der Missbrauchsskandal die Kirche

Papst und Kardinäle suchen Wege aus der Defensive

Der dunkle Schatten des sexuellen Missbrauchs holt die katholische Kirche erneut ein. Von Australien bis Deutschland, von Washington bis in den Vatikan wird ermittelt, Scham bekundet und nach Verantwortlichen gesucht.

Autor/in:
Ludwig Ring-Eifel
 (DR)

In mehreren US-Bundesstaaten ermittelt die Justiz wegen Tausender früherer Fälle von sexuellem Missbrauch Geistlicher an Minderjährigen. In Australien steht der vatikanische Finanzminister, Kardinal George Pell, wegen Missbrauchsverdachts vor Gericht. In Rom muss sich Papst Franziskus mit dem Vorwurf auseinandersetzen, er habe den amerikanischen Kardinal Theodore McCarrick gedeckt, obwohl er gewusst habe, dass dieser einst Dutzende Seminaristen sexuell bedrängt hatte. Und in Deutschland sickern Zahlen aus einer wissenschaftlichen Studie der Bischöfe durch. Demnach wurden seit 1946 mehr als 4 Prozent der katholischen Geistlichen in Deutschland mit Missbrauch in Verbindung gebracht.

Die Reihe ließe sich fortsetzen: Irland und Chile schienen in den vergangenen Jahren geradezu epidemisch betroffen, in anderen Ländern halten sich Medien und Justiz (noch) zurück. Doch ihre lange Präsenz und ihre weltweite Struktur sorgen dafür, dass alle Zahlen bei der katholischen Kirche enorm groß erscheinen - auch die der Verbrechen in ihren eigenen Reihen. Zudem ist sie deshalb besonders anfällig, weil der Umgang unverheirateter Männer mit Kindern und Jugendlichen in Schulen, Internaten und Kirchengemeinden quasi zu ihrem Kerngeschäft gehört.

Wegsehen, Vertuschen, Aktenvernichtung

Die Schilderung der nicht selten akribisch geplanten Übergriffe ruft stets von Neuem Entsetzen, Abscheu und Ekel hervor. Hinzu tritt immer häufiger die Frage nach der Verantwortlichkeit der Oberen. Es geht um Wegsehen, Vertuschen, Aktenvernichtung und Förderung des Verbrechens durch Versetzung der Täter. Ins Visier geraten auch frühere Personalchefs und Generalvikare, Bischöfe und Kardinäle bis hin zu den höchsten Verantwortlichen im Vatikan.

Papst Franziskus sprach am Dienstag in einem etwas hilflos wirkenden biblischen Vergleich vom Satan als "dem großen Ankläger", der versuche, das gläubige Volk aufzuhetzen. Sicher war das nicht als Plädoyer gegen die Aufklärung der Straftaten gedacht, sondern eher als Appell zur Einigkeit. Doch durch das Schweigen über sein eigenes Verhalten in der Affäre McCarrick und durch eingestandene Fehler im Umgang mit der chilenischen Missbrauchskrise ist Franziskus in die Defensive geraten.

Die Bischofskonferenzen weltweit

Der von ihm geleitete Kardinalsrat "K9" zur Reform des Vatikan-Aparats sah sich jetzt veranlasst, dem Papst öffentlich den Rücken zu stärken. Ähnlich wie vor eineinhalb Jahren, als sie den Papst gegen die Kritik konservativer Kardinäle an seiner eher liberalen Ehe- und Scheidungslehre in Schutz nahmen, gaben die in Rom versammelten Ratgeber ihm auch diesmal Rückendeckung. Gleich zweimal in drei Tagen bekundeten sie ihm "ihre volle Solidarität".

Offenbar war der Druck so groß, dass sie den Papst darüber hinaus auch zweimal zum Handeln drängten: Den ersten Tag der Beratungen beschlossen sie mit dem vielsagenden Hinweis, dass der Heilige Stuhl "alle nötigen Erklärungen" zu den Ereignissen der vergangenen Wochen vorlegen werde. Und am Mittwoch hieß es zum Ende der dreitägigen Beratungen, der Papst habe "nachdem er den Rat der Kardinäle gehört habe" beschlossen, eine Sonderversammlung der Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen weltweit zum Thema Missbrauch Minderjähriger einberufen.

Der innere Feind

Mit diesem Schritt kommt der Papst einer Forderung konservativer Bischöfe aus den USA entgegen. Sie hatten vorgeschlagen, die im Herbst im Vatikan geplante Jugendsynode abzusagen und stattdessen eine Sondersynode zum Thema Missbrauch einzuberufen. Etwas Ähnliches tut der Papst nun. Angesichts eines Problems, das er weder durch persönliches Charisma noch durch prägnant formulierte Interviews lösen kann, greift Franziskus auf eine seiner bekannten Reformideen zurück: Er will das Thema auf die Ebene der nationalen Bischofskonferenzen verlagern.

Möglicherweise gelingt es ihm damit, zu verhindern, dass die Gesamtkirche durch eine anhaltende Serie von kleineren Brandherden immer wieder neu Schaden nimmt. Sein Vorgänger Benedikt XVI. erlebte in seinen drei Jahrzehnten in vatikanischen Spitzenämtern bereits die beiden ersten verheerenden Stürme des Missbrauchsskandals. Daraufhin formulierte er 2010 die bittere Erkenntnis, dass "die schlimmste Verfolgung der Kirche nicht durch ihre äußeren Feinde kommt, sondern aus den Sünden innerhalb der Kirche entsteht."


Quelle:
KNA