Der Heilige Martin

 (DR)

In Europa bräuchte es heute mehr von seinem Schlag: Die Not der anderen ging dem römischen Soldaten Martin über seine eigene Karriere. Buchstäblich grenzüberschreitend war er und hatte den klaren Blick für den Nächsten. Ein Christ, der im entscheidenden Moment seines Lebens barmherzig war und «an die Ränder» ging. Der heilige Martin steht für Frieden und Solidarität, für mehr Aufmerksamkeit gegenüber Randgruppen. Er ist Patron der Bettler, der Geächteten und der Kriegsdienstverweigerer.

Der Martinstag war traditioneller Pacht- und Zahltag; es wurde geschlachtet und viel in Naturalien gezahlt. Gänse und frische Wurst waren im Umlauf - ein Grund, warum Landarbeiter und Kinder am Ende des bäuerlichen Wirtschaftsjahres um die Häuser zogen, sangen und mit Naturalien belohnt wurden. Nach dem Martinstag begann die 40-tägige Fastenzeit vor Weihnachten ("Martinsquadragese"). Also wurde noch mal ordentlich hingelangt - wie noch heute an den Tagen vor Aschermittwoch. Und das, obwohl Martin selbst, der frühere Mönch und Bischof, ein ausgemachter Asket war. In Frankreich gibt es sogar die Bezeichnung "Martinsschmerzen" für Bauchweh und Kater nach einem Gelage.

Der Martinsabend mit seinen Martinsfeuern war ein ausgelassenes Fest.
Entsprechend sorglos-undiszipliniert konnte die Dorfjugend agieren - erst recht, wenn sie sich nicht ausreichend bedacht fühlte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wünschten sich die Preußen in den Rheinlanden mehr "Zucht und Ordnung2; und so wurde das Brauchtum des Holens und Sich-Organisierens kanalisiert in Geben und Zuteilen. Ein reitender Sankt Martin - eine fromme Autoritätsperson also - ging einem "ordentlichen" Fackelzug voran. An einem zentralen Feuer (statt vieler kleiner, unbeaufsichtigter) verteilte Martin an alle Kinder Süßigkeiten: einen Weckmann und/oder eine Martinstüte.

Als Martin seinen Mantel mit dem Bettler teilte und damit Militäreigentum beschädigte, beging er eine Straftat, auch wenn damals nominell die Hälfte dem römischen Staat und die andere dem Soldaten selbst gehörte. Heute gilt der halbe Mantel als ein Zeichen christlicher Barmherzigkeit. Im Mittelalter jedoch wurde er von den Frankenkönigen als Glücksbringer mit in die Schlacht geführt. Später verlieren sich seine Spuren.

In Frankreich, wo Martin als Bischof von Tours wirkte, kennt kaum einer mehr seine Legenden und Geschichten. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass der Oberkommandierende der Westalliierten im Ersten Weltkrieg, Marschall Ferdinand Foch, das Datum der deutschen Kapitulation auf den 11. November 1918 legte, den Martinstag. Für das Bewusstsein um den heiligen Martin war das (ungewollt) ein Bärendienst. Denn bis heute ist der 11. November in Frankreich zwar ein Feiertag - aber als staatlicher "Tag des Waffenstillstands", an dem der Veteranen gedacht wird und nicht des heiligen Bischofs aus der Antike. (KNA, 7.11.2018)